"Jetzt haben sie Vater erschossen!"

Meine letzten Kriegstage erlebte ich als junge Frau von 22 Jahren und Mutter eines elf Monate alten Sohnes in meinem Heimatort Maring an der Mosel. Von meinem Mann, Feldwebel in einer Luftnachrichteneinheit, hatte ich schon seit Dezember 1944 nichts mehr gehört. Es war Anfang März 1945, als der Krieg uns hier im Westen einholte. Die Amerikaner stießen von den Ardennen durch die Eifel zur Mosel vor. Die Front rückte immer näher und mit ihr auch der Tag X, der unser Dorf - an der Liesermündung zur Mosel gelegen - zum Kampfgebiet werden ließ, das ein kleiner Trupp SS-Soldaten verteidigte, um den letzten deutschen Soldaten den Rückzug über Mosel und Hunsrück ins Reich zu sichern. Das war ihnen auch gelungen, denn die Amerikaner schafften es nicht, unser Dorf einzunehmen. Nach heftigen Kämpfen und Verlusten zogen sie sich bei Anbruch der Dunkelheit zurück. Auch unsere Soldaten hatten einige Kameraden, die auf unserem Dorffriedhof ihre letzte Ruhe fanden, zu beklagen. Sie setzten sich ebenfalls abends ab. Am anderen Morgen rückten die Amerikaner kampflos bei uns ein. Sie nahmen unserer Häuser in Besitz und suchten jeden Winkel nach deutschen Soldaten ab. Wir erlebten nun, wie kämpfende Truppen sich verhalten und dass im Krieg auch andere Gesetze gelten. Nachdem im Januar 1945 der Bahnhof von Wittlich-Wengerohr durch Bombenangriffe völlig zerstört und lahmgelegt war, wurde mein Vater, der Eisenbahner war, dienstlich nach Cochem abkommandiert. Als auch dort später nichts mehr ging, kehrte er nach Hause zurück. Doch dadurch, dass alle Eisenbahnbrücken der Moselstrecke gesprengt waren und kein Zug mehr fuhr, musste er diesen langen Heimweg auf Schusters Rappen antreten, und so kam er nach drei Tagen Fußmarsch erschöpft, aber wohlbehalten an dem Morgen, als die Amerikaner unser Dorf besetzten, zu Hause an. Wir waren überglücklich, ihn gesund und heil wiederzuhaben. Da wir aber nicht mehr in unserem Haus sein konnten und unsere Bleibe im Winzerkeller unseres Nachbarn hatten, hatte er keine Zeit und Gelegenheit mehr, sich umzuziehen, und so trug er noch seine Eisenbahneruniform, als die Amerikaner den Keller durchsuchten. Diese glaubten nun, noch einen deutschen Soldaten aufgespürt zu haben, denn sie hatten ja keine Ahnung von der Uniform, die mein Vater trug. So nahmen sie ihn kurzerhand mit und schüchterten uns noch mit drohenden Gebärden ein. Wir waren alle in großer Angst. Was sollte nun werden? Es dauerte nicht lange, da hörten wir draußen einen Schuss. Meine Mutter fing an zu weinen und sagte: "Jetzt haben sie Vater erschossen!" Sie bat mich, nachzusehen was passiert war. Mir fiel das nicht leicht, doch es ging um meinen Vater. Ich nahm meinen Sohn auf den Arm, in der Hoffnung, dass sie mir und dem Kind nichts antun würden und ging bangen Herzens nach draußen. Auf dem Hof standen fünf Amis um meinen Vater herum und hielten ihre Gewehre auf ihn gerichtet. Sie redeten auf ihn ein, doch es war keine Verständigung möglich, denn die Amis konnten kein Deutsch und mein Vater kein Englisch. Ich erkannte sofort den Ernst dieser Sache. Einer der Amis kam mit vorgehaltenem Gewehr auf mich zu und wollte mich in den Keller zurückdrängen. Ein anderer, der etwas humaner war, hielt ihn zurück und winkte mir. Wie aber sollte ich ihnen erklären, dass mein Vater gar kein Soldat war, denn ich konnte ja auch kein Englisch.Auf Französisch den Vater gerettet

Ich versuchte es dann auf Französisch, das ich aus meiner Handelsschulzeit noch ein wenig beherrschte und sagte: "Chemin de fer" zu Deutsch: "Eisenbahn." Das klappte auch nicht, denn sie verstanden es nicht. Nun musste mir schnell etwas einfallen. In meiner Not kam mir ein ganz simpler, aber rettender Gedanke. Ich machte ihnen vor, wie bei kleinen Kindern, wenn man mit Ihnen Zug spielt: "Tsch, Tsch, tut, tut!" Das hatten sie endlich kapiert und ließen meinen Vater nun frei. Der Schuss, den wir im Keller gehört hatten, war nur ein Warnschuss, den sie in meiner Gegenwart noch ein paar Mal wiederholten. Mein Vater aber sah aus wie ein gerupftes Huhn, denn sie hatten ihm alle Knöpfe, Dressen und auch Schulterstücke von der Uniform abgerissen. Gott sei Dank, dass es aber noch so abging, es hätte viel schlimmer kommen können. Alle drei, mein Vater, mein Sohn und ich konnten nun unbeschadet wieder in den Keller zurückkehren. Dort aber waren sie alle am Weinen, denn sie glaubten durch die Schüsse, die sie gehört hatten, wären auch wir nicht mehr am Leben. Johanna Bracht, Autorin dieses Textes, ist Jahrgang 1923 und lebt bis heute in ihrem Heimatort Maring.

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