Kathi heißt hier Katarzyna
WITTLICH. Der Bayer ist ein bodenständiges Wesen, das jenseits der weiß-blauen Gaue leicht fremdelt. Das ist auch an der Mosel nicht anders, trotz der schönen Landschaft und des freundlichen Menschenschlags, der dort lebt. Denn das gewohnte "grüß Gott" sucht der Bajuware ebenso vergeblich wie gemütliche Biergärten. Doch da, inmitten all der Weinberge und Straußwirtschaften, ein Leuchtturm bayerischen Brauchtums: Das Oktoberfest in Wittlich. Eine Visite.
Ein erster Verdacht keimt bei der Parkplatzsuche: Allzu problemlos ist das Gefährt in unmitttelbarer Nähe des Oktoberfests abgestellt, das, wie die Organisatoren versprechen, das größte seiner Art in Rheinland-Pfalz ist. Doch schon wenige Meter hinter der Absperrung wird der Verdacht zur Gewissheit: Der Festplatz ist auf ein Festzelt reduziert - weit und breit nichts zu sehen von Hau-den-Lukas, gebrannten Mandeln und Riesenrad. Aber es bleibt ja noch die Hoffnung auf eine gepflegte Maß in gemütlicher Atmosphäre.Verwaiste Biertische, johlendes Publikum
Doch schon hinter der Eingangstür wartet das nächste Befremden in Form eines Eintrittsgelds. Ein Einfall, der auf Münchens Theresienwiese wohl tumultartige Ausschreitungen zur Folge hätte. Aber was tut man nicht alles für ein wenig Heimatgefühl. Nun ja, immerhin gibt es kein Gedränge wie beim Original, im Gegenteil: Die Hälfte der rund hundert Biertische ist verwaist. Lediglich um die Bühne an der Kopfseite des Zelts, von der "Sepp und die Steigerwälder Knutschbären" gerade "Marmor, Stein und Eisen bricht" schmettern, sind die Bankreihen dicht besetzt. Oder vielmehr: bestanden. Denn das meist jugendliche Publikum steht johlend auf den Tischen und gröhlt aus voller Kehle mit - echte Wies‘n-Stimmung. Nun fehlt nur noch eine zünftige Brotzeit. Das hungrige Auge durchstreift das Zelt nach stämmigen, Maßkrüge schleppenden Bedienungen in karierten Dirndln, findet jedoch nur zwei junge Damen in Jeans und Sweat-Shirts, die leere Gläser in einen Einkaufswagen sammeln. Schließlich fällt der Blick auf ein Schild mit der Aufschrift "Bonkasse" - Selbstbedienung ist angesagt. Doch die Reklameschilder einer Münchener Brauerei lassen den aufkeimenden Grant schnell verfliegen. "Grüß Gott. A Maß Festbier, bittschön." Die Frau hinter der Kasse blickt etwas unsicher, schiebt dann aber doch einen blauen Bon über die Theke. Ein paar Meter weiter ist die Getränke- und Essensausgabe, und zu der übervoll (!) eingeschänkten Maß soll sich gebratenes Geflügel gesellen. "A hoibs Hendl und a Semml, bittschön." Teil zwei des kleines Sprachtests verläuft weniger erfolgreich: Nur mühsam ist die Dame vom Grill davon abzuhalten, Semmelknödl neben Brust und Schenkel zu drapieren - ein echter Stilbruch. Doch auch dieser Fauxpas ist vergessen, als Bier und Brotzeit auf dem Tisch stehen. Nach einer weiteren Viertelstunde liegen die Knochen abgezaust auf dem Teller, die Maß ist leer - und der Verbrüderungsdrang steigt. Ob sich wohl noch ein weiterer Landsmann hierher verirrt hat? Da sitzt ein älterer Herr, dessen Oberkleid entfernt einem Trachtenhemd ähnelt. Ob er aus Bayern kommt? Nein, aus Wittlich. Aber etwas mehr "Blechmusik" würde er sich wünschen, sagt er. Sepp ist inzwischen auf den "Country roads" angekommen. Die Menge auf den Tischen johlt, und mit ihr ein junger Mann in Krachlederner, Sepplhut und Kniestrümpfen. "Tschuldigen‘s, san Sie aus Bayern?" Nein, eigentlich nicht, er sei ganz aus der Nähe, entgegnet der Mann. Heimweh steigt auf. Doch da, eine Souvenir-Verkäuferin, die in fesch'm Dirndl blinkende Hasen-Ohren und Anstecknadeln feilbietet. Sie wird gerade von einer fröhlichen Abordnung der Belegschaft der Seniorenresidenz Haus Seeblick Ulmen umringt, die sich auf Betriebsausflug befindet. Wie sie wohl heißen mag? Resi? Oder Kathi? Doch nein, auch dieser Schein trügt. Kathi heißt hier Katarzyna und kommt aus Polen. Während sie erzählt, dass sie eigentlich Fotografin ist, holen Sepp und seine Kumpanen zum atmosphärischen Keulenschlag aus: Zu "Viva Colonia" versammeln sich die ersten Bankreihen zur großen Polonaise vor der Bühne. Karneval in Lederhosen? Das ist wohl doch eher etwas für "Moselbayern". Am Ausgang noch ein letzter Blick zurück auf die befremdliche Szenerie, dann geht es hinaus in die kalte Novembernacht. Von Ferne klingen Sepp und seine Knutschbären ans Ohr: "I wui wieda hoam." Der Autor dieses Artikels ist gebürtiger Münchener und lebt seit gut einem Jahr im Landkreis Trier-Saarburg.