Kein Hass, keine Vorwürfe

Nach dem Einsatz im Mittelabschnitt an der Ostfront kam ich Mitte des Jahres 1944 als junger Soldat mit 18 Jahren in russische Kriegsgefangenschaft. Die gesamte deutsche Verteidigungsfront war zusammengebrochen. Die Zahl der deutschen Kriegsgefangenen stieg rapide von Tag zu Tag an. Die Sammelstelle war zunächst in Lemberg, später in Kiew/Ukraine. Zum Schluss waren es über 440 000 Kriegsgefangene. Nachdem wir acht Tage bei starkem Regen unter freiem Himmel zubrachten, mussten wir für einen Marsch durch Kiews Hauptstraßen in Zehnerreihen antreten, zuerst 4000 Offiziere, danach 40 000 Mannschaftsgrade.Dieser Marsch gestaltete sich zu einem Drama. Sehr viele Kriegsgefangene waren von Krankheiten, besonders Durchfall, befallen. Es war ein Spießrutenlaufen. Immer wieder bewarf uns die Bevölkerung mit Steinen und sonstigen Gegenständen. Manch einer der Gefangenen wurden stark verletzt. Es war ein Propagandamarsch. Vor allem auf die vielen in Kiew lebenden Juden sollten wir gedemütigt wirken. Am Ende unseres Marsches wurden wir am Bahnhof Kiew auf stehende Güterwaggons wie Vieh verladen. Nach zwei bis drei Tagen erreichten wir die Stadt Nikolajew, unser Endziel. Über eine Holzbrücke überquerten wir den Bug, der in seiner Größe in etwa dem Rhein entspricht. Am anderen Ufer ging das Gelände etwas bergauf und endete auf einem großen Kasernengelände. In jedes der dortigen 24 Gebäude wurden 500 Kriegsgefangene eingewiesen. Jede Stube hatte eine Grundfläche von fünf mal vier Meter mit blankem Boden und sollte 30 Kriegsgefangene aufnehmen. 30 Kriegsgefangene in einer Stube war für die Folgezeit eine Arbeitsbrigade.Die tägliche Arbeit fanden wir in der völlig zerstörten Schiffswerft. Es waren überwiegend Aufräumarbeiten. Die sehr dürftige Verpflegung und vor allem das sehr schlechte, bleihaltige Leitungswasser förderten die Entkräftung und Erkrankungen der Kameraden von Tag zu Tag. Die Zahl der Arbeitsunfähigen wuchs immer weiter. An Gelbsucht, Ruhr und Distrofiker erkrankten bis Ende des Jahres 1944 90 Prozent der Kriegsgefangenen.Um Weihnachten 1944 gingen noch höchstens 200 deutsche Kriegsgefangene zur Arbeit. Mich hatte zunächst Anfang Dezember eine starke Gelbsucht befallen. Zur Behandlung fehlten jegliche Medikamente und mein Körpergewicht sank von Woche zu Woche. Acht Tage vor Weihnachten erkrankte ich an einer kräftigen Ruhr. Von den 24 Kasernenblocks mussten mehr als die Hälfte für Krankenlager genutzt werden. Je näher die Weihnachtstage rückten, desto stärker nahm die Kälte zu. Nachttemperaturen um minus 20 Grad Celsius waren keine Seltenheit. Die Wasserversorgung brach total zusammen. Warmes Essen gab es schon einige Tage nicht mehr. Trotz aller Umstände erholte ich mich einigermaßen von der Ruhr. Viele der Mitgefangenen überlebten ihre Krankheit nicht.Erster Weihnachtstag: Tote Kameraden wegräumen

 Ähnlich wie diesen jungen deutschen Soldaten erging es Ferdinand Mettler: Er geriet in Gefangenschaft.Foto: Archiv Monika Rolef

Ähnlich wie diesen jungen deutschen Soldaten erging es Ferdinand Mettler: Er geriet in Gefangenschaft.Foto: Archiv Monika Rolef

Besonders in Erinnerung blieb mir das Schicksal eines ehemaligen älteren Stabsfeldwebels, der neben mir auf der Pritsche, auf seinem Krankenlager lag. Er hatte sehr schwer die Ruhr. Er wachte in der Heiligen Nacht plötzlich auf und schrie: Weihnachten, meine liebe Frau und die vier Kinder! Mit letzter Kraft stieg er von der Pritsche, schleppte sich zum Kübel mit dem Aufwischwasser und versuchte den Durst, den sein Körper durch den hohen Feuchtigkeitsverlust erlitt, zu stillen. Er fiel um und war tot. Ebenso erging es vier weiteren Kameraden aus unserer Stube. Am nächsten Morgen war der erste Weihnachtsfeiertag, an dem zunächst die zahlreichen toten Kameraden eingesammelt wurden, dann beteten wir und gingen auf das Treppengelände zu. Dort hatten einige Kameraden, die in der Stadt arbeiteten, ein kleines ungeschmücktes Tannenbäumchen organisiert und aufgestellt. Mit 30 Kameraden sangen wir die Weihnachtslieder "Stille Nacht, Heilige Nacht" und "O Du Fröhliche". Am Ende der Lieder bekam keiner mehr vor lauter Tränen einen Ton heraus. Das große Heimweh hatte uns allen die Stimme verschlagen.In der Nacht am zweiten Weihnachtsfeiertag kam eine angenehme Überraschung. Gegen Mitternacht hat jeder eine kleine Portion Kascha als Weihnachtsgeschenk erhalten.Tage später erfuhren wir, dass einige arbeitsfähige Kameraden tagsüber Eisschollen aus dem Bug gefischt und sie in der Küche zum Kochen aufgetaut hatten. Es war eine Tat, die wir sehr hoch einschätzten.Nach Weihnachten gingen unsere Leiden und das Sterben unserer Kameraden weiter. Von den ursprünglichen 12 000 Kriegsgefangenen sind in dem letzten Kriegswinter 8000 Kameraden gestorben. Dies ist bedauerlich. Aber bitte keinen Vorwurf an den Kriegsgegner Russland. Das Land hatte einfach nicht die Mittel und die Möglichkeiten für eine bessere Behandlung der Krankheiten und Verpflegung zu sorgen. Kurz gesagt: Das Land war überfordert. Hätte Amerika nicht nur Kriegsmaterial, sondern auch Nahrungsmittel geschickt, so wären nicht nur hunderttausende russische Bürger vor dem Hungertod gerettet worden.Trotz der persönlich erlittenen Qualen empfinde ich keinen Hass auf Russland und seine Bürger. Ich danke Gott, dass er mich frühzeitig, im August 1945, wenn auch schwer krank, in die Heimat schickte. Millionen anderer Kameraden war dies leider nicht vergönnt. Unter diesem Gesichtspunkt sehe ich heute, 60 Jahre danach, mein Leben und bin für jeden weiteren Lebenstag unserem Herrgott sehr, sehr dankbar.

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