Kopfschütteln über die Unmündigkeit

WITTLICH. (red) Wenn Schüler am letzten Schultag vor den Osterferien freiwillig ihre Unterrichtszeit um eine Stunde verlängern, bevor sie in die ersehnten Ferien starten, dann muss es schon ein ganz besonderer Unterricht sein: Im Kreisarchiv tauchten Gymnasiasten des Cusanus-Gymnasiums unter Leitung ihres Geschichtslehrers Volker Standt in Zeiten ein, in denen es weder eine funktionierende Demokratie noch selbstbestimmte Bürger gab.

Anhand von Materialien des Kreisarchivs, wie alten Zeitungen, Amtsakten und Chroniken tauchten die kurz vor der Volljährigkeit stehenden Schüler in die Vergangenheit Deutschlands ein. Und sie landeten im Kaiserreich, im Weimarer Politchaos und im Nationalsozialismus. Die Jugendlichen staunten, wie selbst im letzten Winkel des Landkreises jedes Jahr verherrlichend und mit großen Feiern und Glockenklang der Geburtstag des Kaisers gefeiert wurde. Berichte darüber entdeckten Julia Schomer und Patrick Scharla in den lokalen Zeitungen sowie in Schul- und Ortschroniken. Der Kaiser wurde verehrt wie ein Gott und seine Existenz nicht durch freie Wahlen in Frage gestellt. In der Kaiserzeit beginnt auch eine alte Akte aus dem ehemaligen Kreis Bernkastel über den “Kreis-Polizeihund“. Dieser, so fanden Sarah Döpgen und Michaela Braun heraus, erreichte eine fast hundertprozentige Aufklärungsrate als Spürhund bei Diebstählen. Was den Schluss zulässt, dass die Diebe damals wohl noch ausschließlich auf Schusters Rappen unterwegs waren. Mit der Abschaffung des Kreis-Polizeihundes wurde die Akte im Jahr 1933 geschlossen. Keine konkrete Wahlmöglichkeit

In die Weimarer Republik fallen die Recherchen von Angie Timplan und Julia Spang. Sie beschäftigten sich mit einem Vorgang zur amtlichen Förderung von Milchverbrauch und Milchpropaganda, die in der ländlichen Gegend, in der 90 Prozent der Bevölkerung selbst Milchkühe im Stall stehen hatte, sonderbar anmutet. Eine Werbeaktion sollte im Landkreis Bernkastel dafür sorgen, dass mehr Milch produziert und getrunken wird. Die Reaktionen aus dem Landkreis waren, wie die Schülerinnen feststellten, entsprechend aufgebracht, denn Milch war das Grundnahrungsmittel der Kreisbevölkerung. Anna Elsen und Anja Roden nahmen sich die Gesundheitsvorsorge in der Weimarer Zeit vor und ermittelten, dass die Impfärzte unter katastrophalen hygienischen Bedingungen arbeiten mussten. Erschreckend war für Patrick Braun und Thomas Hanke die Beschäftigung mit der amtlichen Vorbereitung der Reichstagswahl und Volksabstimmung im April 1938. Die schriftlichen Dokumente darüber zeigten, wie wenig diese Wahl eine konkrete Wahlmöglichkeit zuließ. Sie stießen sogar auf eine schon vorgefertigte Erklärung, in der die Ortsbürgermeister vorab mit ihrer Unterschrift eine Erklärung bestätigen sollten, dass ihre Gemeinde geschlossen an Volksabstimmung und Reichstagswahl teilnehmen und dass Hitler von allen stimmberechtigten Einwohnern der Gemeinde gewählt werde. Charles Baumgarten und Sebastian Rink gingen dem Bau von Reichsarbeitsdienstlagern im Landkreis, speziell in Morbach, nach, die zum so genannten freiwilligen Arbeitseinsatz überall in Deutschland in den 30er-Jahren eingerichtet wurden. Junge Frauen und Männer zwischen 18 und 25 waren verpflichtet, ein halbes Jahr für ein Entgelt von nur zwei Reichsmark täglich an nationalsozialistischen Arbeitsprojekten teilzunehmen. Die Tage im Kreisarchiv waren für die Teilnehmer des Geschichtsprojekts sehr beeindruckend. Für sie gab es oft Anlass, den Kopf zu schütteln über die Unmündigkeit der Menschen unter Kaiserherrschaft und politischem Terror.

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