Marokkaner in der Neustraße

WITTLICH. 150 Zuhörer, ein Teil davon auf rasch herbei geschafften hölzernen Klappstühlen, so recht wie früher: Willi Schrots Erinnerungen aus hundert Jahren Stadtgeschichte ließen den Casino-Saal aus allen Nähten platzen.

Es sollte keine Geschichtsstunde im klassischen Sinn werden. Damit hätte die Casino-Gesellschaft den Saal auch kaum voll bekommen. Nein, an was sich Wittlichs Ehrenbürger da erinnerte, trug, stärker als jedes Buch, zu einem tiefen Geschichtsverständnis bei: eben durch die Qualität des subjektiv Erlebten. Schnörkellos und ohne Neigung zur Selbstdarstellung plauderte der 91-jährige Schmied aus 100 Jahren Stadtgeschichte. Längst verstorbene Menschen lebten einen Abend lang auf. Die alte Dame zum Beispiel, die des abends in den offenen Mühlenteich stürzte, als sie die Milch zum Nachbarn tragen wollte. "Sie starb durch einen falschen Tritt ins Wasser", vermeldete der Totenzettel. Oder die Stummelsucher, arme Teufel, die an Markttagen die Straßen nach Zigarrenstummeln absuchten. Unter sie mischte sich auch ein verschämter Reicher, der, wenn er einen Stummel erspähte, sich niederbückte, vermeintlich, um das Hosenbein abzuwischen. Auto-Niles und Kaffee-Niles outeten ihn in der Neustraße: Mit einem Bindfaden an einem der Stummel, den er vergeblich aufzuheben versuchte. Oder Graf Kageneck, der die Chuzpe hatte, 1933 einen jüdischen Kameraden in seiner Kapelle mitmarschieren zu lassen, trotz des vehementen Wortgefechtes mit einem eingefleischten Nazi. "Der Jude muss raus!" - "Kamerad Dublon marschiert mit!" Er marschierte mit. Vom Jahrhundertwein 1921 hat Willi Schrot gekostet, natürlich erst später, als er alt genug dafür war. Die französischen Marokkaner auf wilden Araberhengsten, auf dem Kopf den Turban, in der Hand den Säbel, sind seine eindrucksvollsten Erinnerungen an die Separatistenbewegung der 20er Jahre. "Wie immer in revolutionären Zeiten hatten auch damals zunächst die Rabauken die Oberhand." Schrot erinnerte an die Forstschule und das Lehrerseminar, deren Teilnehmer zahlreiche Wittlicher Mädchen heirateten, an Feste in Elsens Garten und Stummfilmaufführungen im Kaisersaal hinter dem heutigen Deutschen Haus. Ein Mann mit Namen Musseleck, wie könnte es in Wittlich anders sein, spielte hinter einer spanischen Wand die Musik dazu: mal leise und einfühlsam, mal höchst dramatisch. Schrot erinnerte auch an jüdische Schicksale: an jene, die in Auschwitz ermordet wurden, und an jene, denen die Flucht gelang. Als Chefkoch in New Yorks Waldorf-Astoria arbeitete später Kurt Ermann, von dessen Tellern Päpste und Präsidenten aßen. Oder Berthold Dublon, der erste Jude, der sich nach dem Krieg wieder nach Wittlich wagte. Der hatte sich einst, sozusagen als Zeichen des Neuanfangs nach dem Konkurs, für einen Vormittag einen 1000-Mark-Schein auf der Bank geliehen und schickte sein frisch herausgeputztes Lehrmädchen von Laden zu Laden: Ob wohl jemand so nett wäre, das Geld zu wechseln. Natürlich spielte auch die Fünf-Zentner-Bombe eine Rolle, die, Gottlob, zum "Ausbläser" geworden, nur den Dachstuhl des Schrotschen Wohnhauses und nicht das gesamte Gebäude in Flammen aufgehen ließ. Und Mehse Matti, "dessen Gedanken bereits zu einer Zeit, als alles in Schutt und Asche lag, dem Kulturellen galten". Noch vor der Währungsreform schloss er einen Vertrag mit der Landesbühne ab, kümmerte sich um die Meistermann-Fenster und zahlte sämtliche Reisekosten aus eigener Tasche - ohne je darüber gesprochen zu haben. Zum Ausklang der Stadt-Geschichten wurde Willi Schrot zum ersten Ehrenmitglied der Casino-Gesellschaft ernannt.

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