"Mit 70 haben diese Kinder keine Probleme mehr"

WITTLICH. (peg) Volles Haus im Atrium: 360 Besucher interessierten sich für das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Die Problematik wurde aus medizinischer und pädagogischer Sicht beleuchtet.

 Immens ist der Informationsbedarf in Sachen ADS. Viele nutzten die Gelegenheit, sich beim Forum in Wittlich von Fachleuten informieren zu lassen.Foto: Petra Geisbüsch

Immens ist der Informationsbedarf in Sachen ADS. Viele nutzten die Gelegenheit, sich beim Forum in Wittlich von Fachleuten informieren zu lassen.Foto: Petra Geisbüsch

Dem Symposium vorangegangen war eine anonyme Erhebung aller Schulanfänger des vergangenen Sommers. Die Eltern aus dem Landkreis waren aufgefordert, Auskunft zu geben über Verhaltensauffälligkeiten an ihren Kindern. Von 1340 ausgeteilten Fragebögen kamen 1067, das entspricht fast 80 Prozent, zurück. Fazit: 1,6 bis 2,2 Prozent der Kinder weisen Auffälligkeiten auf, die auf ADS hinweisen; bei 17 (zwei Mädchen, 15 Jungs) war es bereits von ärztlicher Seite diagnostiziert, vier Jungs werden mit Medikamenten therapiert. Brigitte Jenniches-Kloht, Ärztin im Fachbereich Gesundheit, wies auf die speziellen Probleme von Eltern der ADS-Kinder hin, die sich einem Bombardement von Kritik an ihrem Erziehungsstil ausgesetzt sehen: Nicht selten führt dies zu einem Burn-Out-Syndrom und Depression, besonders bei Müttern. Landrätin Beate Läsch-Weber wies auf den hohen Stellenwert der Diskussion über ADS und Hyperaktivitätsstörungen hin: "Sie gehören zu den häufigsten Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter." Ein interdisziplinärer Erfahrungsaustausch sei von Nöten. Auch die Kreischefin lauschte den Schilderungen der Redner bis zum Ende. Aus medizinischer Sicht sprach Dr. Alexander Marcus, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Trierer Mutterhaus. Als Dreh- und Angelpunkt von ADS ist inzwischen Dopamin ermittelt, eine Transmittersubstanz im Gehirn. Etwa jede Millionste Nervernzelle benutzt Dopamin als Botenstoff. Der Dopaminhaushalt funktioniert beim ADS-ler anders, er ist überaktiv, weshalb ihm in der Konsequenz Verknüpfungen fehlen, die unerlässlich sind beim Sammeln von Erfahrungen. Das Lernen läuft bei ihm einfach anders; er sieht sich einer kompletten und chaotischen Reizüberflutung gegenüber, die er kaum filtern und sortieren kann. Das Problem lässt mit steigendem Alter nach. Dr. Marcus: "Mit 70 haben diese Kinder keine Probleme mehr!" Und vielleicht bekommen sie sogar weder Alzheimer noch Parkinson - was allerdings während der Schulzeit nur ein schwacher Trost sein dürfte.Den Kindergartenalltag mit einem ADS-Kind beschrieben Andrea Theisen und Christina Henrichs aus der Jahnplatz-Kita. Überforderung im stillen Morgenkreis, ein immenses Bewegungsbedürfnis, Schreie, Schläge, rasche Erschöpfung und Ermahnungen kennzeichnen seine Kindheit. Das führt zu sozialer Ausgrenzung, mangelndem Selbstwertgefühl, zeitverzögerter Einschulung. Ein Zitat dieses Kindes bringt seine ganze Tragödie zum Ausdruck: "Ich will ja leise sein, aber meine Arme und Beine können das einfach nicht!" Henrichs und Theisen empfehlen unbedingt die Erarbeitung eines gemeinsamen Konzeptes aller Erwachsenen, die mit seinem solchen Kind leben, um seine Leidenszeit zu verkürzen. Die häufig bei den Eltern vorzufindende Verdrängung helfe niemandem.Maria Maas, frisch gebackene Leiterin der Grundschule Jahnplatz, beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit ADS-Kindern. Wie einst die Legasthenie Jahrzehnte brauchte, um gesellschaftlich registriert zu werden, habe man sich nun endlich auf breiter Front des ADS angenommen, sagt sie. Sie brachte auch die positiven Seiten der ADS auf den Projektor: Spontaneität, Charme, Humor, ein unermesslicher Fundus an Ideen und Kraft, die große Vorstellungskraft und vor allem der starke Gerechtigkeitssinn - fernab von allen Schulproblemen. Ihr praktischer Rat an alle Pädagogen: "Machen sie die Kinder zu ihren Assistenten!" Karten aufhängen, die Fenster öffnen, zum Sekretariat laufen: Sich gerade von ADS-lern helfen zu lassen sei eine Möglichkeit, sowohl die Kinder selbst als auch die Klassengemeinschaft positive Erfahrungen mit den als Problemfällen verschrieenen Mitschülern machen zu lassen. Und: Geduld mit den Hausaufgaben! Oftmals lieferten die Kinder sie am folgenden Vormittag freiwillig nach - korrekt gelöst und schneller als alle ihre Mitschüler.Selbsthilfegruppe Juvemus: Ansprechpartnerin: Kerstin Baden, Telefon 06578 / 992062; Internet-Adresse: www.juvemus.de.

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