Mit Schokolade und Kaugummis

Bei Kriegsende hat meine Familie Monate lang nichts vom Vater gehört, der als Soldat auf dem Balkan war. Bei der Nachricht, dass die Rote Armee die Oder überschritten hat, entschloss sich unsere Mutter binnen eines halben Tags zur sofortigen Flucht. Sie trat die Flucht mit uns vier Kindern aus einem Vorort im Osten von Berlin in überfüllten Zügen nach Mitteldeutschland an. Gerüchte von Greueltaten im Osten und von auf Flüchtlingstransporten erfrorenen Babys begleiteten uns. Hinter uns lagen Nächte, die uns in der Regel zwei Mal in den Luftschutzkeller nötigten, in dem sich unsere Mutter einmal über die Kinder warf, als das Haus schwankte. Am nächsten Morgen lag ein abgeschossener Bomber am Ende der Straße, und in einem anderen Haus war eine ganze kinderreiche Familie ums Leben gekommen. Auch waren während meiner Abwesenheit einige Schulkameraden und Lehrer einem Angriff zum Opfer gefallen, während uns nächtens nicht nur das Brummen und Krachen, sondern auch ein blutroter Horizont ängstigte und der Wunsch, einmal auszuschlafen, übergroß wurde. In Hoym bei Quedlinburg wurden wir in ein Zimmer in einer Gärtnerei eingewiesen, wo wir uns die Küche mit einer kinderreichen Familie aus Essen teilten. Bald war die Hauptstraße auch dort vom Trappeln und Rollen der Flüchtlingstrecks erfüllt. Mein kleiner Bruder musste mit einem Fuhrmann in einem Deckungsloch vor einem Tiefflieger Schutz suchen. Ich wurde durch den Anblick eines erschossenen Soldaten erschreckt, der mich an meinen Vater erinnerte. Zwei Lastwagen mit ausgemergelten KZ-Häftlingen

Eines Tages wurde ein junger Pole von zwei Uniformierten mit Stahlhelm in unsere Gärtnerei verfolgt und vor meinen Füßen niedergeschlagen. Er sollte sofort erschossen werden, wurde aber wieder hochgerissen und mit einem Ukrainer, der die Gruppe mit einem Spaten zu begleiten hatte, über die Felder weggeführt. Bald darauf hielten vor der Metzgerei meines Schulfreundes zwei LKW mit KZ-Häftlingen, die sich vor unseren Augen ausgemergelt und wild mit Konservendosen auf das blutdurchtränkte Wasser in der Gosse stürzten und mit Kolbenschlägen zurückgetrieben wurden. Später mussten NS-Funktionäre auf Befehl des amerikanischen Stadtkommandanten außerhalb des Orts etwa ein Dutzend Häftlingsleichen mit bloßen Händen ausgraben. Die gesamte Bevölkerung musste sich diese anschließend ansehen; die Häftlinge, worunter der Jüngste 15 Jahre alt war, waren mit dem Spaten erschlagen worden. Inzwischen setzte der Rückstrom der deutschen Truppen ein - überwiegend ungeordnet in einem Durcheinander von LKW-Kolonnen, einzelnen Panzern, PKW, Fußgruppen - die schließlich sogar aufgelöst über die Felder kamen. Dann jedoch grub sich eine Fallschirmjäger-Einheit an den Ortseingängen ein, und nach Androhung eines Bombenangriffs flüchtete die gesamte Bevölkerung nach auswärts an die Ufer der Selke, wo wir bei beginnender Dämmerung und Regen in einem Mühlenanwesen Zuflucht fanden. Gegen Morgen kam dann die erlösende Nachricht, dass der Bürgermeister die Soldaten zum Abzug bewegen konnte. Unter weißen Fahnen erlebten wir einen geradezu manövermäßigen Einzug der Amerikaner mit Jeeps, LKW und Panzern, auf denen überall Maschinengewehre montiert waren. Unter den jungen, gepflegten Soldaten ging niemand zu Fuß und alles lief per Funk ab. Schokolade, Kaugummi, aufgeblasene Präservative, "Negermusik", aber auch die Wegnahme von Taschenmessern und Uhren waren die weiteren Eindrücke. Aber Frieden war eingekehrt, während unendliche Panzerkolonnen durch den Ort rollten. Erstaunlich war eine Versammlung mit roten Fahnen, während sich der Ortsgruppenleiter mit Rucksack davon machte. Ganz anders verlief später der Einmarsch der Rotarmisten: zu Fuß, mit nur einer Decke und einem Beutel sowie einem berittenen Offizier. Zu dritt aßen sie aus einer Schüssel, und uns schickten sie zum Bierholen. Später sahen wir auch Panzer, mit Transparenten wurden dekorierte Anwesen mit hohen Bretterzäunen versperrt, außerdem wurden in nächtlicher Verhaftungsaktion tatsächliche oder vermeintliche NS-Funktionäre ins Spurlose weggeführt. Viele Fragen bleiben nach dem Kriegsende

War nun "Selim", unser Fähnleinführer, der sich in Vaterlandsbegeisterung freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte, umsonst gefallen? Wie sollte man die verbrecherischen Ereignisse einordnen? Was sollte man noch glauben können? Eine Fahrt durch die Mondlandschaft des zerstörten Magdeburg vermittelte den Eindruck eines Weltuntergangs. Jürgen Uecker wurde 1932 in Berlin geboren. Lange Jahre war er Pfarrer in Duisburg-Homberg. Seit 1971 kam er jedes Jahr mit seiner Familie nach Manderscheid zur ökumenischen Freizeitarbeit. Seit Januar 1997 lebt er mit seiner Familie in Manderscheid.

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