"Musik haben wir trotzdemgemacht"

MÜLHEIM. Senta Becker ist Jahrgang 1923. Sie kann sich an keine Zeit erinnern, in der sie sich nicht für Musik begeistert hat. Seit 1999 singt sie regelmäßig beim Radiosender SWR 4, live, über Telefon.

"Musik hat von frühster Jugend an mein Leben und das meiner Familie bestimmt", sagt Senta Becker mit fester Stimme. Ihren ersten Auftritt hatte sie 1928, mit fünf Jahren. "Ich sollte als Junge verkleidet, in kurzen Lederhosen, Sporthemd und Hut pfeifend auf die Bühne gehen und ein Lied singen", erzählt sie lachend. Aber pfeifen konnte sie noch nicht, das erledigte ihre Mutter im Hintergrund. In der einen Hand hielt sie einen Vogelkäfig, in der anderen einen Blumenstock.Familie wurde von Nazis bedroht

Und so, als wäre es gestern gewesen, rezitiert sie den Text des Liedes: "Mein Vater hat ein Testament unterschrieben beim Notar. Er hat mir Haus und Land vermacht und 's ganze Inventar. Sein Haus, das war ein Vogelhaus, ein Zeisig war sein Vieh. Sein Grund, das war ein Blumenstock und 's Inventar bin I…" Das sind Erinnerungen an eine schöne Kindheit, die 1931 ein jähes Ende fand. Die Familie wurde massiv bedrängt, in die NSDAP einzutreten. Sogar Drohungen wurden gegen sie ausgesprochen. Als Kind verstand sie nicht, warum ihre Eltern von Nachbarn mit Pistolen bedroht wurden, aber das machte ihr Angst. Sie wurde schikaniert, zum Beispiel musste sie auch samstags, mit fünf anderen Mädchen, die Schulbank drücken, weil sie nicht im Bund deutscher Mädchen war. "Das war eine schlimme Zeit, aber Musik haben wir trotz allem gemacht", erinnert sie sich. Jeden Montag wurde in ihrem Haus musiziert, ihr Vater leitete mehrere Chöre. Erst hörte sie nur zu, später sang sie mit. Im Radio hörte sie Schlager, die gefielen ihr so gut, dass sie den Ehrgeiz entwickelte, diese Lieder einmal selber vorzutragen. Klavierunterricht nahm sie insgesamt sechs Stunden, die Fähigkeit zu singen und Klavier zu spielen eignete sie sich im Selbststudium an. Die Jahre gingen ins Land. Eine Ausbildung folgte noch während des Kriegs. In Mülheim an der Mosel lernte die gebürtige Bochumerin ihren zukünftigen Ehemann kennen. Der Krieg ging zu Ende, und sie zog 1945 aus dem zerstörten Bochum nach Mülheim an der Mosel."In 50 Sekunden ist Ihr Auftritt"

Dort singt und spielt sie seit 1984 im Seniorenkreis der evangelischen Kirchengemeinde. Im Jahr 1999 hörte sie die Sendung "Hauskonzert" auf SWR 4. Das Publikum wurde aufgefordert, über Telefon musikalische Beiträge zu bringen. "Mein Sohn hatte das mitgekriegt und meinte nur: ,Da willst du dich ja wohl nicht melden?'", erzählt sie schmunzelnd. Sie meldete sich dennoch, und nach anfänglichem Zögern willigte sie ein, über Telefon zu singen. Wenige Minuten später läutete es: "Hallo Frau Becker, in 50 Sekunden ist ihr Auftritt", verkündete die Stimme von dem Radiosender. Seitdem hat sie 30 "Auftritte" absolviert und ist zum Star der Sendung avanciert. Nick Benjamin, Leiter der Sendung, ist jedes Mal froh, wenn er ankündigen darf: "Heute Abend singt und spielt Frau Becker aus Mülheim für Sie. Viel Vergnügen!" Ohne Vorankündigung legt sie eine Kassette in den Rekorder. Es knistert, wie man das von alten Schellack Platten kennt. Dann erklingt ihr Klavier, Jahrgang 1929, und ihre feine, aber feste Stimme. Man fühlt sich in die UFA-Zeit versetzt und hat ein Bild vor Augen: Senta Becker sitzt als junges Mädchen vor dem Radio und lauscht verzückt dieser Musik, die sie heute in unsere Zeit retten möchte.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort