Nur wer lebt, kann sterben

Verständnislos schaut mich der Mann an, der vor mir in seinem Sessel sitzt. Die Wohnung ist leicht abgedunkelt. Er schüttelt den Kopf. "Dieser Arzt - also dieser Arzt" - er schüttelt wieder den Kopf.

"Von nichts eine Ahnung. Ein Zeug redet der..." Ich verstehe nicht, was der Mann mir sagen will. "Magenkrebs", sagt er schließlich. "Aber mit dieser Diagnose haben Sie doch gerechnet, oder?" "Schon, schon", antwortet er. "Er sagt, ich müsse sterben. Endstadium. Da sei nichts mehr zu machen." Ich schlucke, versuche ihm fest in die Augen zu blicken. "Aber ich kann doch gar nicht sterben!" Der Mann ist entrüstet, als sei er beleidigt worden. "Sterben kann doch nur jemand, der auch gelebt hat." Ich schaue ihn verständnislos an. Die Geschichte des Mannes ist schnell erzählt. Als Einzelkind aufgewachsen, in einer Kommunalverwaltung gearbeitet, hat er zeit seines Lebens bei seinen Eltern gelebt. Die wurden krank. Beide pflegebedürftig. Er pflegte sie. Erst den Vater gemeinsam mit der Mutter. Später die Mutter. Freunde hatte er keine. Einmal hatte er eine junge Frau aus der Verwaltung kennen gelernt. War mit ihr mal Eis essen und ins Kino. Sie heiratete später einen anderen. Seinen Kollegen aus dem gleichen Büro. Das hat ihn sehr verletzt und für den Rest seines Lebens traurig gemacht. Vor einigen Monaten starb dann die alte Mutter. Er wollte verreisen, was von der Welt sehen, sich amüsieren. Doch er wurde todkrank. Der Mann schüttelt noch immer den Kopf. Blättert in einem speckigen Fotoalbum. Bilder von seinem Leben. Seite für Seite blättert er um. Er hält sein Leben fest in den Händen. "So war das", sagt er. Gelebt hat er für andere. Fast sein ganzes Leben lang. War einfach für sie da. Das ist eine Menge. Und ich finde es schade, dass er es für so wenig gehalten hat. Dennoch: Der Satz des Mannes geht mir lange nicht aus dem Kopf: "Sterben kann doch nur jemand, der auch gelebt hat." Harald Müller-Baußmann, Diakon, Morbach

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