Spannungen aushalten

WITTLICH. Magersucht, Fresssucht und Bulimie: Die Zahl essgestörter Menschen steigt stetig. Besonders junge Mädchen sind gefährdet. Das Peter-Wust-Gymnasium bot Schülern und Lehrern einen ersten Lehrgang zum Thema.

Längst sind essgestörte Menschen in den Fokus der Gesellschaft gerückt: Galten sie lange als Exoten, kennt inzwischen jeder die Zusammenhänge zwischen unserer mediengeprägten, auf Äußerlichkeiten angelegten Zeit und der zunehmenden Schwierigkeit besonders junger Mädchen, sich einen eigenen Platz in dieser Welt zu sichern: Sich zu akzeptieren und zu mögen mit allen Ecken, Kanten, mit für andere vielleicht unbequemen Eigenschaften - und eben auch mit ein paar Speckpölsterchen, wenn sie denn da sind. Das Programm, mit dem die Soziologin und Therapeutin Beate Schnabel vom Frankfurter Zentrum für Essstörungen sich an Schüler und Lehrer des Peter-Wust-Gymnasiums wendet, ist denn auch zweigeteilt: In zwei Schulstunden wendet sie sich an Schülerinnen, in einer weiteren Doppelstunde an die Lehrer, die ebenfalls lernen müssen, mit diesem brisanten Thema umzugehen, Erkrankte zu erkennen, auf sie zuzugehen, ihnen ein Gespräch anzubieten. Aus aktuellem Anlass hatte Albert Schlimpen als zuständiger Lehrer auf das kostenlose Angebot zurückgegriffen. Beate Schnabel musste allerdings improvisieren: Vor ihr saß eine gemischte zehnte Klasse, normalerweise arbeitet sie nur mit Mädchen. So konzentrierte sie sich in den Gruppenarbeiten auf die Körpersprache und vermied das heikle und immer noch mit zahllosen Tabus unter den Geschlechtern behaftete Thema "Essstörungen" ganz, was manche sehr enttäuschend fanden. Sie hätten lieber, auch in Anwesenheit der acht Jungs der Klasse, das Thema konkret behandelt. Signale aussenden und richtig deuten

Doch ergiebig war die Gruppenarbeit in dem von Schnabel gesteckten Rahmen dennoch. Die entscheidende Frage: Verstehen meine Mitmenschen die Signale, die ich nonverbal aussende? Und sie verstehen sie oft nicht, wie die Schüler rasch merkten. Sich bevormundet oder verletzt fühlen: Wie zeige ich zum Beispiel diese Gefühle? Wo spüre ich sie selbst im eigenen Körper? Wie fühlt es sich an? Nur wer den anderen sehr gut kennt, registriert diese Signale, die der Körper aussendet, jeder andere liegt genauso oft daneben, wie er richtig liegt. "Manche Schülerin sagte: Ich möchte jetzt gar nicht zeigen, wie ich dieses oder jenes Gefühl ausdrücke", berichtet Schnabel. "Auch dies ist sehr wichtig: Die eigenen Grenzen spüren, ernstnehmen und nicht darüber hinweggehen." Wie jede Sucht kann auch der Magersucht oder Bulimie im Vorfeld entgegen gearbeitet werden. Je stärker eine Persönlichkeit zu sich selbst gefunden hat und zu sich steht, um so weniger ist sie suchtgefährdet. Was aber tun, wenn Lehrer glauben, eine ihrer Schülerinnen habe die Krankheit? Schnabel rät zum behutsamen Umgang. Ich-Botschaften sind der Schlüssel. Nicht die Formulierung "Du solltest zum Arzt gehen, du bist ja krank" bringt Zugang zu essgestörten Mädchen, sondern vielleicht ein "Ich mache mir Sorgen um dich" oder ein "Ich sehe, dass es dir schlecht geht". Albert Schlimpen hat nach dem Kurs des Frankfurter Zentrums zum ersten Mal begriffen, wo das Suchtpotenzial der Krankheit liegt. "Ich habe mich immer gefragt, wie etwas, das jemand nicht tut, eine Sucht sein kann?" Jetzt weiß er es. Das Nicht-Essen ist eine von vielen Möglichkeiten, mit dem in der Pubertät zwangsläufig entstehenden Gefühlswirrwarr um die Loslösung von den Eltern und der Hinwendung zur eigenen Sexualität umzugehen. Spannungen aushalten lernen heißt das Geheimnis. Es geht bei Essstörungen häufig um die Vermeidung und Verlagerung von Problemsituationen - ein typisches Suchtverhalten, aus dem schwer herauszufinden ist.

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