Überleben mit Mehlsuppe und Brot

ERDEN. Mitten in der hektischsten Lesezeit sieht Wolfgang Schwaab Jahr für Jahr der bedeutsamste Tag seines Lebens vor Augen. Nach fast zwei Jahren Arbeitsdienst und Kriegsgefangenschaft in Sibirien stand er als 19-Jähriger endlich wieder vor dem Elternhaus in Erden.

Der Tag seiner Heimkehr, der 14. Oktober 1946, hat sich in das Gedächtnis von Franz-Wolfgang Schwaab tief eingegraben. Es war mitten zur Lesezeit, als er endlich die Mosel wieder sah. Doch die Weinberge waren vernachlässigt: Wer hätte auch die Arbeit machen, wer den Wein kaufen können? Auf den Ruf "der Wolfgang kommt, der Wolfgang kommt" konnte ihm seine Mutter wohl gar nicht schnell genug entgegen laufen. "Sie hatte noch die Schürze an und weil die nicht schnell genug auf ging, hat sie die - zack - mit dem Messer aufgeschnitten", erinnert er sich, als sei dies erst gestern geschehen. 19 Jahre war der Sibirien-Heimkehrer damals alt und brachte nach der Zeit der Kriegsgefangenschaft gerade mal 118 Pfund auf die Waage - "mit Kleidern!"Gespräche drehten sich ums Essen

Seither ist dieser Tag im Leben des heute 76-jährigen Vaters von drei Kindern und vierfachen Großvaters ein besonderer, den er nie vergessen hat. Wozu seit einigen Jahren der Geburtstag einer Enkeltochter beiträgt. "Man wird erinnert", meint Schwaab. Jahrelang beging er den Tag mit "Schommer Pitter", der inzwischen verstorben ist. Die beiden waren sich auf dem Weg nach Hause begegnet - und hätten sich fast nicht wieder erkannt. Vor allem Schwab hatte sich verändert, seit der Einberufung am 21. November 1944. Zuvor hatte der 17-Jährige noch bei der Ernte geholfen. Nun ging es in den Taunus zum Arbeitsdienst, um Panzergräben zu bauen. Im März 45, als die Amerikaner schon herüber geschossen hätten, sei er noch in Niederlahnstein gewesen. "Aber ich hatte keine Courage zu schwimmen", wundert er sich heute. Was aber für einen Deserteur - auch wenn er noch in der Ausbildung war - hätte übel ausgehen konnte. Noch einen Monat später, nach Stationen in Brandenburg und Österreich, hätte er erlebt, wie ein Unteroffizier einen Kameraden so unter Druck setzte, dass dieser sich erschoss. Wegen eines Wachvergehens. Kurz danach - sie sollten gerade "in Stellung marschieren" - war der Krieg zu Ende. Auf dem Weg Richtung Heimat gerieten sie in der Tschechoslowakei in Gefangenschaft. 14 Tage waren sie mit 90 Mann in einem Waggon Richtung Sibirien unterwegs. Dort angekommen im August, mussten sie erst ihre Baracken bauen. "Anfang November konnten wir in unsere Gemächer einziehen", erinnert sich der Erdener und denkt an Wanzen und den Hunger. Den Februar 1946 hätte er - abgemagert auf 70 Pfund - fast nicht überstanden, lag mit "Hunger-Typhus" im Sterbekämmerchen. Die Ernährung war halt mager: Nur selten gab es statt Mehlsuppe und Brot eine Art Hirsebrei. Was ihm half, waren die Rationen an Tabak und Zigarettenblättchen, die er gegen hartes Kastenbrot eintauschte. Oder einige Kartoffeln, die er bei der Ernte in der Wattehose verschwinden ließ. Dass sich damals die Gespräche in den Baracken meist ums Essen drehten - um Kaiserschmarren oder in der Röhre Abgebackenes - kann er bis heute nicht verstehen. "Da hat man sich selber noch Hunger gemacht und hat nix zu reißen und zu beißen gehabt!" Während körperliche Arbeit den Gefangenen immer schwerer fiel, gelang es dem jungen Mann, sich die russische Schrift anzueignen. Was ihm zeitweise Schreibarbeiten verschaffte. Im Juni 1946 durften sie dann zum ersten Mal nach Hause schreiben. 46 Tage war die Karte unterwegs, die er an mehreren Tagen in Reimform verfasste. Darin keine Klage, lediglich die Andeutung vom Schmerz im Frühjahr oder Erfahrungen am Ende der Welt. Die Buchstaben jedoch ganz eng aneinander gereiht. Als der Gruß in Erden ankam, war die Sibirien-Zeit für Schwaab so gut wie vorbei. Er hatte Glück und durfte mit dem ersten Trupp Richtung Heimat. Trotz aller Not und Entbehrungen weiß Schwaab dem Erlebten sogar etwas Positives abzugewinnen. "Man hat sich viel Menschenkenntnis erworben", meint er. Mit vielen, die er kennen gelernt hatte, hätten ihn lange Kontakte verbunden. Und er sei mit sämtlichen Dialekten in Berührung gekommen. Ob er über seine Erfahrungen auch in jungen Jahren gesprochen hat? "Eigentlich nicht so gern", lautet die knappe Antwort, die mehr sagt als alle Worte. "Wenn man älter wird, denkt man mehr drüber nach."

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