Unvergessliche Anblicke

WITTLICH/MORBACH. Kriegsende 1945: Mit einem weiteren Zeitzeugenbericht setzen wir unsere TV-Serie fort.

Anfang März 1945 durchbrachen die Amerikaner die deutsche Front im Raum westlich von Wittlich. Das Feuer der Artillerie wurde immer bedrohlicher.Am 9. März 1945 befand ich mich mit meinem Vater am Lüxemer Sportplatz auf der Straße, die in den Grünewald führt. Wir blickten hinunter auf das Dorf. Am Ortsrand stand eine Deutsche Batterie. Wir sahen das Mündungsfeuer der Geschütze, und dann sahen wir, wie völlig unbehelligt vom Abwehrfeuer ein amerikanisches Beobachtungsflugzeug ganz tief und langsam über die deutsche Stellung flog und die feuernde deutsche Artillerie orten konnte. Mein Vater war dadurch sehr beunruhigt. Er sagte: "Die amerikanische Artillerie wird bald zurückschießen. Das kann sehr schlimm werden. Wir müssen zurück ins Dorf. Alle müssen sofort in den Keller." Als wir nach Hause kamen, veranlasste mein Vater die Familie und alle Verwandten - insgesamt 16 Personen, die seit dem Bombenangriff auf Wittlich am Heiligen Abend 1944 bei uns in der Schule Zuflucht gefunden hatten - den Keller aufzusuchen. Er holte auch die ausgebombten Bewohner, die in der Holzbaracke des Kindergartens oberhalb des Schulhauses untergekommen waren, zu uns in den Keller. Wie erwartet setzte am Abend schlagartig das amerikanische Artilleriefeuer ein. Wir spürten im Keller, wie nahe die Einschläge waren. Die deutsche Batterie hatte das Feuer eingestellt und in der Nacht vom 9. auf den 10. März das Dorf geräumt. Als das Artilleriefeuer der Amerikaner am Morgen aufhörte, verließ ich den Keller, um nachzusehen was der Beschuss angerichtet hatte. Es sah schlimm aus. Von der Holzbaracke des Kindergartens stand nichts mehr. Das Pfarrhaus und das Haus Follmann waren total zerstört. Zum Glück war die Familie Follmann aus ihrem Haus in einem selbst erbauten Unterstand im damaligen Ginsterberg oberhalb der Schule geflüchtet. Im Pfarrgarten und im Schulgarten waren zahlreiche Granattrichter. Vor dem Haus Müller lagen zwei von Granatsplittern getötete Pferde. Wie durch ein Wunder war niemand getötet worden. Die meisten Artillerieeinschläge waren am Ortsrand in unbebautes Gelände gegangen. Am Morgen beschlossen wir, auf der damaligen Lungenheilstätte Maria Grünewald Zuflucht zu suchen, weil diese unter dem Schutz des Roten Kreuzes stand. Auf dem Weg dorthin wurden wir von erneutem Artilleriefeuer überrascht. Wir konnten uns noch rechtzeitig in den Straßengraben werfen, als mehrere Granaten dicht vor uns auf dem Weg einschlugen. Als der Beschuss aufhörte, setzten wir unseren Weg zur Heilstätte fort. Dort angekommen stieg ich mit dem Sohn des damaligen Arztes Dr. Koch auf den Speicher. Vom Dachfenster aus konnten wir mit dem Fernglas die Straße von Wittlich nach Dorf einsehen. Es bot sich ein mir unvergessener Anblick. Auf der Straße von Wittlich nach Dorf bewegte sich eine Armada von amerikanischen Panzern nach Osten. Dieser Anblick veranschaulichte die ungeheure Materialüberlegenheit der amerikanischen Streitkräfte gegenüber den geschlagenen Resten der Wehrmacht. Der letzte deutsche Panzer, den ich nach der Ardennenoffensive zu sehen bekam, war ein paar Tage zuvor oberhalb der Lüxemer Weinberge aus Brennstoffmangel stehen geblieben und in die Luft gesprengt worden. Wir gingen nach Lüxem zurück. Als wir dort ankamen, war das Dorf bereits von den Amerikanern besetzt. Ein Landser, der sich beim Rückzug der deutschen Soldaten offenbar versteckt hatte, ging alleine in Gefangenschaft. Dies war am 10. März 1945. Die amerikanischen Soldaten benahmen sich gegenüber der Zivilbevölkerung sehr diszipliniert. Wir atmeten auf. Für uns war der Krieg zu Ende. Zwei Monate später erfolgte die bedingungslose Kapitulation. Philipp Drautzburg, der Autor dieses Beitrags, lebt in Morbach. Das Kriegsende erlebte er 17-jährig in Wittlich.

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