Unvergessliche Augenblicke

An das Kriegsende in meinem Heimatort Niederkail kann ich mich sehr gut erinnern. Es war der 8. März 1945. Ich war damals neun Jahre alt. Bereits Wochen vorher hörte man in westlicher Richtung Detonationen.

Bei uns im Haus war ein Kradmelder einquartiert, den sie "Schorsch" nannten. Von diesem erfuhren wir, in welcher Gegend die Front sich gerade befand. Gegenüber dem Haus des Eifeldichters Peter Zirbes (1825 bis 1901) hatten Kriegsgefangene für die Bevölkerung "auf der Retsch" einen sicheren Stollen in den Berg getrieben. Als die Front in die Nähe von Niederkail kam, zogen sich die Frauen, Kinder und älteren Männer (der Sohn des Eifeldichters mit Namen Peter war auch dabei) in den Stollen zurück. Als die Front vor Niederkail stand, erfuhren wir von "Schorsch", dass zwischen Binsfeld und Niederkail schwere Kämpfe tobten. Als mein Vater Matthias Lautwein aus dem Krieg nach Hause kam, erzählte er, dass er im Radio im Wehrmachtsbericht selbst gehört habe, dass an der Westfront zwischen Binsfeld und Niederkail schwere Kämpfe toben würden und dass das Dorf Niederkail in Flammen stehe. Die schweren Kämpfe haben ja gestimmt. Gott sei Dank nicht die Meldung, dass Niederkail in Flammen stand. Bevor die Front näher kam, mussten die alten Männer des "Volkssturms" noch zwei Panzersperren aus Holz bauen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Eine Panzersperre wurde in der Nähe des Friedhofs, die andere ausgangs des Orts in Richtung Binsfeld auf der heutigen B 50 gebaut. Selbst mein Großvater, Jakob Lautwein, der an den Sperren mitgebaut hatte, glaubte nicht daran, dass diese Holzbauwerke einen feindlichen Panzer aufhalten könnten. Und so war es auch. Wie Streichhölzer wurden sie weggeräumt. Dann war es soweit: Am Abend des 7. März 1945 kam unser Kradmelder "Schorsch" zu uns in den Stollen und verabschiedete sich von meiner Mutter und der ganzen Nachbarschaft. Er informierte uns darüber, dass die Front mit Sicherheit in dieser Nacht (7./8. März 1945) durch Niederkail in Richtung Landscheid ziehen würde. Es sei nur noch ein deutscher Panzer auf der Anhöhe bei Hof Mulbach (heute Industriegebiet Firma Börner), und dieser Panzer könne die Amerikaner wegen Munitions- und Spritmangel nicht mehr aufhalten. Wenn also dieser letzte Panzer zurückrolle in Richtung Landscheid, müssten wir damit rechnen, dass die Amerikaner in Niederkail einrückten. Und so war es auch. Am frühen Morgen des 8. März 1945 klopfte es plötzlich sehr heftig an der dicken Holzbalkentür des Stollens. Die vorne sitzenden alten Männer öffneten die Tür und amerikanische Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren traten vor und fragten nach deutschen Soldaten im Stollen. Nachdem sie keine Soldaten gefunden hatten (es waren auch keine drin), zogen sie sich wieder zurück. Für mich persönlich war dieser Augenblick ein unvergessliches Erlebnis, weil ich erstmalig in meinem Leben einen leibhaftigen Schwarzen gesehen hatte. Die Amerikaner waren nun da, und trotzdem wurden noch von versteckten deutschen Soldaten zwei Kailbachbrücken gesprengt, was total sinnlos war, denn zwei Tage später hatten die Amerikaner eine Stahlbehelfsbrücke über den Kailbach gebaut. Die Front konnte ungehindert weiterziehen. Nachdem die Amerikaner den Ort eingenommen hatten, erging der Befehl, dass die gesamte Bevölkerung sich an der Kirche zu versammeln habe. Dabei kam es zu einer Panik, als plötzlich eine Granate von deutschen Rückzugstruppen in der Nähe der Kirche einschlug, ohne jemanden zu verletzen. Die gesamte Bevölkerung wurde in die Häuser der heutigen Römerstraße, Kailbachstraße und des Birkenwegs evakuiert. Mit ist noch in guter Erinnerung, wie wir durch den Schlamm der aufgewühlten Dorfstraße mit unseren Habseligkeiten im Handwagen in unser Quartier bei der Familie Metzen zogen. Bei allem Elend und aller Not und der Ungewissheit über die Soldaten im Krieg ist gerade dieses Notquartier mit den vielen Menschen, besonders den vielen Kindern im Haus, bei mir bis heute in guter Erinnerung geblieben. Oskar Lautwein (Jahrgang 1936) war Verwaltungsdirektor des Krankenhauses in Bitburg. Außerdem war er 20 Jahre lang Ortsvorsteher von Niederkail. Heute ist er kommunalpolitisch noch als Erster Beigeordneter der VG Wittlich-Land aktiv.

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