Von Apfel bis Zebra

WITTLICH. Selbst gesteuert Lesen lernen: Dahinter verbirgt sich ein Lernansatz, der alles andere als neu ist. Bei einer Lehrerfortbildung erläuterte der geistige Vater der Anlauttabelle, Jürgen Reichen, warum sein 1970 entwickelter Ansatz der bessere ist.

Im Sommer wird Jürgen Reichen in den Ruhestand gehen. Es war also die letzte Gelegenheit für Lehrer, den Vater der Anlauttabelle persönlich zu hören. Und das war die lange Anfahrt wert, die zahlreiche Kollegen in Kauf genommen hatten, um die Methode des "Lesen-durch-Schreiben" noch einmal aus erster Hand vorgestellt zu bekommen. Die Luft in der Aula der Grundschule Friedrichstraße war schlecht: Zu viele Lehrer hatten sich hineingequetscht. Das tat der guten Laune jedoch keinen Abbruch. Auch die gute Laune eine Botschaft des Verfechters des selbst gesteuerten Lesenlernens: Lernen kann Spaß machen. Man braucht Erfolgserlebnisse, und die vermittelt seine Methode eher als die übliche, bei der die Sechsjährigen häufig zu hören bekommen: So ist es falsch! Frust ist angesagt, wo Motivation viel mehr bewirken würde. Bei Reichen bekommen die Kinder am zweiten Schultag eine Überblickszeichnung an die Hand, die Buchstaben dadurch vermittelt, dass sie ein jeweils passendes Bild zum Buchstaben setzt: Bei A könnte dies ein Apfel sein, bei B eine Blume, bei H ein Haus, bei Z ein Zebra. Doch Kinder werden auf diese Weise nicht vom ersten Tag an schreiben wie der Duden es verlangt. "Warum sollten sie auch?", fragt Reichen. In allen anderen Lernbereichen ist es uns selbstverständlich, dass wir das Wissen langsam aufbauen. "In der Geografie beginnen wir auch nicht in Bangladesh, sondern im eigenen Landkreis; in der Mathematik müssen die Kinder auch nicht sofort im Tausenderraum rechnen." Er sieht es so: "Mit der Fibel lerne ich nicht lesen, ich lerne nur entziffern." Und wer nur entziffere, der werde nie ein Buch lesen.Bei Hannah hat es sofort "klick" gemacht

Der ewige Frust - "du machst das verkehrt" - bleibt schwachen Schüler nach Reichens Methode weitgehend erspart. "Bei ihnen gibt es keinen Zweifel, dass sie nicht schreiben können." Die Kunst des Lehrers dabei ist, kreativ zu lesen, was seine Schüler ihm vorsetzen. Reichen kommt aus der Praxis. Darum erliegt er nicht der Versuchung, sich Illusionen bezüglich der Schreiblust seiner Erstklässler zu machen. Gerade so wie ihre Eltern drücken sich auch die meisten Kinder ums Schreiben. Darum Regel Nummer eins: Fünf Wörter müssen es schon sein am Tag. Danach können seine Schüler gerade so lernen, wie es ihnen am meisten zusagt: "Diese fünf Wörter sind der Eintrittspreis für einen schönen Vormittag." In einem Raum nebenan können sich die Kinder selbstständig ergänzendes Lernmaterial nehmen, auf das sie gerade Lust haben: Wörter-Puzzles oder Rätselhefte. Korrigiert werden manche Fehler gar nicht, grobe Vokalfehler jedoch von Anfang an. Am Ende der Veranstaltung fragte eine Teilnehmerin nach dem langsamsten und dem schnellsten Kind an Reichens Schule. Der langsamste sei inzwischen 18 Jahre alt und könne es immer noch nicht. Wahrscheinlich werde er es nie lernen: Vater und Mutter seien selbst Analphabeten. Und dann erzählt er von Hannah. Montag war ihr erster Schultag, Dienstag bekam sie die Anlauttabelle und verabschiedete sich mit den Worten: "Also, Frau Lehrerin, schreiben kann ich ja schon." Abends war Elternabend. Alle standen Reichens Methode skeptisch gegenüber. Nur Hannahs Mutter sagte: "Ich versteh es ja auch nicht, aber ich glaube, bei ihr hat es schon "klick" gemacht." Mittwochs bat die Lehrerin Hannah, die Geschichte aufzuschreiben, wie sie schreiben gelernt hatte. Diesen Aufsatz zeigte Reichen vor: Ein faszinierender Beleg für seine Theorie, dass, wer einmal das Prinzip der Anlauttabelle verstanden hat, schlagartig alles schreiben kann.

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