Wie die Zugvögel

BERNKASTEL-WITTLICH. (red) In den Statistiken der Hunsrück-Dörfer fällt auf, dass es einen starken Einbruch bei den Einwohnerzahlen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab. Dies ist auf die um die Jahrhundertmitte einsetzende zweite große Auswanderungswelle zurückzuführen, die viel umfangreicher war als die 100 Jahre zuvor ins Banat. Berthold Staudt aus Morbach beschäftigt sich in dieser Folge der Dorfgeschichten mit den Ursachen.

"Wie im Herbst die Zugvögel der Stimme ihres Blutes folgen, die sie über das Meer nach dem Süden zwingt, so zieht es im vorigen Jahrhundert die Menschen mit magischer Gewalt über den Ozean." Das schreibt Josef Mergen aus Metzdorf in seiner Chronik "Die Amerika-Auswanderungen aus dem Kreise Bernkastel" im Jahr 1955. Hauptsächlich Brasilien und die USA waren Ziel und boten Hoffnung auf ein besseres Leben. Zu den Gründen, die viele Familien in einer von sozialen Missständen geprägten Zeit zur Auswanderung trieben, schrieb der Landrat des Kreises Bernkastel 1852 in einem Bericht: "Ich erlaube mir zu berichten, dass die in diesem Jahr besonders hervortretende Neigung zur Auswanderung nach Allem, was ich darüber vernehme, zunächst ihren Grund in der Unzufriedenheit der Auswanderungslustigen mit den hiesigen Erwerbs- und Nahrungsverhältnissen hat. Es lässt sich nicht verkennen, dass es im Allgemeinen den arbeitenden Klassen zunehmend schwerer wird, sich zu ernähren, indem die Produktion mit dem Zuwachs der Bevölkerung nicht gleichen Schritt hält. Die Erbteile des Einzelnen werden immer kleiner. Das Grundstück, worauf sich früher eine Familie ernährte, muss jetzt deren zwei oder drei ernähren. Das Fehlende muss durch Tagelohn oder sonstigen Nebenerwerb beschafft werden, und soweit es hierzu an ausreichender Gelegenheit fehlt, entsteht Mangel. Dem Handwerkerstand fehlt es bei der vermehrten Konkurrenz ebenfalls an hinlänglicher Beschäftigung, und die Zahl der Handeltreibenden übersteigt das Bedürfnis, während Fabriken und sonstige, den Verdienst und Verkehr hebende Etablissements nicht vorhanden sind. Dass unter diesen Umständen bei den täglich zunehmenden Bedürfnissen und dem auch bei der arbeitenden Klasse eingerissenen Luxus, sowie bei der unverkennbar verhältnismäßig hohen Besteuerung die Verarmung allmählich fortschreitet und Unzufriedenheit in der Bevölkerung entsteht, scheint erklärlich. Treten hierzu Missjahre, wie die weinbautreibenden Moselbewohner sie seit 1846 und im vorigen Jahr durch das Missraten der Kartoffeln und Früchte erfahren haben, so darf es kaum befremden, wenn die Unzufriedenheit einen höheren Grad erreicht, der Steuerdruck weniger erträglich wird und bei den Ärmeren die Überzeugung her-vortritt, sich unter solchen Verhältnissen hier nicht durchbringen zu können, dagegen der besser Gestellte sich der Furcht bemächtigt, in Kurzem ebenfalls zu verarmen. Auf diese Weise entsteht bei Vielen entscheidender Drang nach Verbesserung ihrer Lage. Günstige Nachrichten aus Amerika von früher dahin Ausgewanderten in ihren Briefen an hiesige Freunde und Verwandte stellen die dortigen Verhältnisse sehr günstig dar und erwecken die Neigung zur Auswanderung. Außerdem kehren zuweilen Ausgewanderte zur Regulierung von Familienangelegenheiten aus Amerika zurück, welche die dortigen Verhältnisse in glänzenstem Lichte schildern, und bei der anscheinenden Glaubwürdigkeit dieser, auf eigener Anschauung beruhenden Nachrichten nicht allein bei Leuten, welche mit ihrer Lage unzufrieden sind, sondern auch bei solchen, die bisher ganz zufrieden waren, die Lust zur Auswanderung hervorrufen. Dergleichen zurückgekehrte Ausgewanderte stehen zuweilen aber auch wohl im Dienste von Auswanderungsbeförderern und verdienen daher eine genaue Beaufsichtigung."Quasi Steuerfreiheit in Amerika"

Besonders ist es die quasi Steuerfreiheit in Amerika zum Vergleich mit den hohen Abgaben in der Heimat, welche verlockend wirkt. Fragt man nach dem Grund der Auswanderung, so wird der Steuerdruck als solcher angegeben. Auch die Gemeindebedürfnisse, besonders die Beiträge zu Armenzwecken und zur Besoldung der Gemeinde-Beamten haben in neuerer Zeit sehr zugenommen, so dass die Gemeinde-Nutzungen größten Teils zur Deckung der Gemeindebedürfnisse verwertet werden müssen und nur wenig zur Verteilung unter die Nutzungsberechtigten übrig bleibt. Die Auswanderung wird, wenn es so bleibt, in diesem Jahre stärker werden, als im Jahre 1846, wo 633 Personen ausgewandert sind." Wenn auch Sie eine historische Anekdote kennen, den Namen eines Hauses oder einer Straße erklären können oder zu einem historischen Ereignis eine persönliche Geschichte zu erzählen haben, schreiben Sie unter dem Stichwort "Dorfgeschichten" mit Namen, Adresse und Telefonnummer an die E-Mail-Adresse mosel@volksfreund.de. Wichtig ist, dass Ihre Geschichte höchstens 60 Druckzeilen (à 30 Anschlägen) umfasst.

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