Begegnungen

Sie wohnt oberhalb im Dorf, erzählt sie. Ihr sieben Monate altes Mädchen hat sie auf dem Rücken, mitgebracht den steilen Berg hinunter in 4000 Meter Höhe, und natürlich am Abend wieder den gleichen Weg zurück. Ich treffe die Frau, deren Namen ich nicht weiß, auf der "Isla del Sol", einem der bekannten Touristenziele auf dem Titicacasee in Bolivien. Sie ist nicht die einzige, die versucht, Textilien und andere kleine Artikel mit den typischen Mustern des Hochlandes zu verkaufen. Oft ist es nicht mehr die wertvolle Handarbeit, sondern man sieht, dass die Artikel maschinell und aus synthetischem Material hergestellt wurden. Was macht man als Touristin, wenn man die Sachen eigentlich nicht brauchen kann? Wenn der Koffer nicht zu schwer werden soll? Und wenn man andererseits weiß, dass die Leute darauf angewiesen sind, etwas zu verdienen? Die Preise sind außerdem für Europäer lächerlich gering - auch dies eine Gewissensfrage. Auf der Plaza in La Paz. Sobald man auf einer Bank sitzt, kommen in regelmäßigen Abständen die Schuhputzer vorbei. Manche verstecken sich unter einer Mütze; sie schämen sich für die Arbeit, die sie tun müssen. Es taucht dieselbe Frage auf? Will man sich die Schuhe putzen lassen? Für Europäer ist diese Dienstleistung sehr ungewohnt. Und die Schuhputzer sind mit mit ein paar Cent zufrieden. Szenenwechsel: Palmsonntag in El Alto, der Armenstadt oberhalb von La Paz. Wir feiern den Gottesdienst. Hier sitzen sie jetzt, die Schuhputzer. Und die Frauen, die an kleinen Kiosken in der Stadt Getränke und Süßigkeiten verkaufen und deren Kinder deshalb oft den ganzen Tag sich selbst überlassen bleiben. Für ein, zwei Stunden sitzen wir nebeneinander in der Bank, singen und beten miteinander. Der Glaube schafft eine Geschwisterlichkeit, die sich auf der Straße nicht einstellt. Für diese kurze Zeit ist eine Verbindung da, die nicht über Geld oder Hautfarbe oder Lebensbedingungen definiert wird. "Hermandad" - Partnerschaft, Gleichheit aller vor Gott. Zumindest für dieser kurze Zeit wird sie greifbar. Übrigens, ein gewebtes Band von der Isla del Sol hängt jetzt in unserer Küche. Die Frau sagte, es bringt Glück. Marianne Bühler, Wittlich

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