Halbwertzeit

Die unverhoffte Begegnung findet auf einer kleinen Brücke statt: zwei alte Männer. Auf zittrigen Beinen der eine, seit dem Schlaganfall im Rollstuhl der andere. Mit feuchten Augen und brüchiger Stimme: "Reinhold, kennst du mich noch?

Ich bin es, dein Cousin Ewald!" Das Leuchten in den Augen zeigt das Erkennen, aber das Sprechen fällt schwer. Ein Händehalten. "Weißt du noch ...?" Kindheitserinnerungen. Und dann: Der Krieg! Der Krieg, die Gefangenschaft, der Hunger. Die beiden Ehefrauen, etwas abseits stehend, wechseln wissende Blicke. Sie wissen, jetzt wird es dauern. Jetzt gibt es vorerst kein anderes Thema. Das Erzählen wühlt ihre Männer auf. Vielleicht werden sie in dieser Nacht wieder nicht schlafen oder von Albträumen geplagt. Aber es muss wohl sein. Und so schmerzlich sie an gefallene Kameraden denken oder brisante Kampfeinsätze fast wiedererleben, die Erinnerungen lassen sich nicht verdrängen. Sie lassen die Männer nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder der Krieg. Es ist so, als gäbe es nur zwei Lebenszeiten: Kindheit und Kriegszeit. Mehr als 60 Jahre nach Kriegsende sitzt dieser Krieg den Soldaten von damals noch in den Knochen, im Bauch, im Kopf. Und diese beiden sind nur zwei von wie vielen? Wie groß müssen Leid, Schrecken, Entsetzen, Entbehrung gewesen sein? Welche Halbwertzeit hat Krieg? Die Begegnung ist für alle voller Emotionen. Das Erzählen lässt die Vergangenheit Gegenwart sein. Der Krieg hat sie gezeichnet, gebrandmarkt. Voller Mitgefühl und Trauer denke ich an die jungen Männer von damals, die Toten und die noch Lebenden, aber auch voller Mitgefühl und Hochachtung an ihre Frauen, deren Stärke und Geduld immer wieder gefordert ist. In letzter Zeit höre ich häufiger den Satz: "Dass doch noch alles so gut geworden ist! Dank sei Gott!" Und dann höre ich die Nachrichten... Monika Bauer-Stutz, Wengerohr

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