Leben - und zwar jetzt

Eine Fernsehsendung berichtete vergangene Woche davon, dass mitten im schwitzigen Hochsommer im bekanntesten Londoner Kaufhaus "Harrods" die Weihnachtssaison angelaufen sei. Stolz erwähnte ein Manager, dass an einem einzigen Tag bereits mehr als 1200 Menschen sich mit dekorativem Christbaumschmuck eingedeckt haben.

Auch bei uns wird es nicht mehr lange dauern, bis in den Supermärkten Weihnachtsmänner aus Schokolade, Lebkuchen und sonstige Weihnachtsutensilien die Regale erobern. Verkehrte Welt? Ohne die Vorfreude auf Weihnachten schmälern zu wollen, handelt es sich bei dieser Verkaufsaktion doch um eine gründliche Schieflage. Werbefachleute werden aus ihrer Sicht triftige Gründe für diese Marketingstrategie anführen, aber beim genaueren Hinsehen wirft eine solche Konsumsteuerung doch einige Fragen nach unserer Art zu leben auf. Vielleicht haben wir einfach verlernt, in der Gegenwart, im Hier und Jetzt zu leben. Die Gegenwart, in der wir sind, leben, atmen, ist immer auch die Gegenwart Gottes. Unser irdisches Leben beginnt mit dem ersten und endet mit dem letzten Atemzug. Ich kann weder auf Vorrat für die Zukunft atmen, noch mir Atem aus einem Speicher der Vergangenheit hervorholen. Der Apostel Paulus schreibt: "Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag der Heils!" (2 Kor 6,2) Das Heute ist unser Auftrag. Nichts, was wirklich wichtig ist, kann ich auf Vorrat machen. Ich kann nicht auf Vorrat atmen, schlafen, ausruhen, weinen oder lachen; nicht auf Vorrat gütig, freundlich, hilfsbereit sein. Ich kann auch nicht auf Vorrat lieben. Es kann nur im Jetzt geschehen.Carpe diem! Den Tag und die Stunde nutzen. Im Hier und Jetzt ist der Atemzug Gottes. Meister Eckehart schreibt: "Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist." Weniger fromm, aber ebenso eindrücklich hat es Bert Brecht in seinen Versen formuliert: "Im Wartesaal zum großen Glück,/da warten viele, viele Leute,/warten seit gestern auf das Glück/von morgen und leben mit Wünschen von übermorgen/und vergessen: es ist ja noch heute!/Ach, die armen, armen Leute." Diakon Harald Müller-Baußmann, Morbach

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