Mach's wie Gott

Wer den berühmten Nürnberger Christkindlmarkt besucht, erfreut sich auch an der wunderschönen Fassade der Frauenkirche mit ihrer imposanten Uhr. Im Chor dieser um 1355 entstandenen gotischen Kirche lässt sich ein seltsamer runder Schluss-Stein entdecken.

Darauf ist eine Frau zu sehen, gekleidet in ein langes blaues Gewand, ein weißer Schleier hängt über der linken Schulter herab, über der rechten Schulter trägt sie ein Rutenbündel. Mit der linken Hand fasst sie den Arm eines neben ihr gehenden Kindes und zerrt es vorwärts. Das Kind schaut recht mürrisch und hält in der linken Hand eine Schiefertafel. Über dem Kind schwebt am Rand ein goldener Engel. Der Heiligenschein des Kindes weist darauf hin, dass es sich um den Jesusknaben handelt. "Jesu Schulgang" ist der Titel dieser Darstellung. Wie kam der Künstler vor 650 Jahren auf ein solches Motiv? Wir wissen nichts über die Ausbildung von Jesus, aber wir können ziemlich sicher sagen, dass er keine Schule besucht hat. In der Bibel finden wir keinen Hinweis auf eine solche Szene. Wenn Jesus wirklicher Mensch war, so stelle ich mir die Gedanken des Künstlers vor, dann hat er alle Facetten des Menschseins durchlebt. Dazu zählte für den Künstler auch der Besuch der Schule. Da Jesus für den Künstler ein normales Kind war, ging er offensichtlich nicht gerne zur Schule, musste von seiner Mutter dorthin geschleppt werden, und Maria hat als "Erziehungshilfe" sogar ein Rutenbündel bei sich. Diese Darstellung hilft mir, die Vorstellung von der menschlichen Nähe Gottes in unserer Geschichte ein wenig zu fassen. Gott ist so verliebt in uns Menschen, dass er selber Mensch wird. Das ist die Botschaft von Weihnachten. Dieses Bild verdeutlicht, er ist nicht ein bisschen Mensch geworden, sondern Mensch mit allen Konsequenzen. Und so können wir in ihm unseren Bruder entdecken. Wolfram Viertelhaus, Wittlich

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