Unsere Toten und wir

Ganz besonders in diesen Novembertagen stehen viele Bilder in uns auf, Bilder, die Menschen zeigen, die wir verloren haben. Szenen tauchen auf: Lachen, Vertrautheit, die Krankheit, ein Streit, ein Geschenk und vieles andere, Außergewöhnliches und Alltägliches.

Tief in unseren Herzen bleiben diese Bilder eingeprägt. Und es ist gut, wenn wir sie nicht einfach wegstecken in das Album verstaubender Erinnerungen. Freilich, wer gestorben ist, ist tot, wir wissen es. Und doch ist es schwer, die Macht des Todes anzuerkennen. Das braucht seine Zeit, eine Zeit, in der wir lernen müssen, unser Leben neu zu ordnen, eine Zeit auch, um unseren Toten neu einen Platz zu geben in unserem Leben. Ja, wir können mit unseren Toten leben, auf sehr vielfältige Weise. Bei jedem von uns wird das anders sein. Ich möchte hier nur eine kleine Anregung geben. Sie heißt: Lassen wir uns beschenken von unseren Toten. Sie können uns helfen; weit mehr als wir für sie tun können, können sie für uns tun. Sie machen uns - meine ich - ein dreifaches Angebot. Zunächst: Sie wollen sich mit uns versöhnen. Das, was uns noch trennt, jener Ballast, der noch zwischen ihnen und uns steht, das, was wir ihnen schuldig geblieben sind, für all das bieten sie uns Vergebung an, schweigend, kaum vernehmbar, aber doch wirklich und echt. "Lassen wir es gut sein", das ist ihr Angebot, "nichts soll uns mehr trennen, nichts mehr zwischen uns stehen." Und das andere: Die Toten, sie bieten uns ihre Gemeinschaft an, sich selbst und ihre Lebensgeschichte und die Lehren, die sie daraus gezogen haben. Was sie uns voraushaben, sie können es uns mitteilen. Sie haben uns etwas zu sagen. Sie sprechen zu uns von ihrem und unserem Leben, von unserem gemeinsamen Ursprung, vom Ziel, das uns gemeinsam ist, von unserer gemeinsamen Zukunft, die sie bereits erreicht haben. Die Toten, sie können uns helfen, die Begrenztheit unserer Welt aufzubrechen, die richtigen Maßstäbe anzulegen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, wesentlicher zu leben, gelassener und freier von dem nur scheinbar wesentlichen Ballast, der uns bedrückt. Und noch ein Drittes: Die Toten bieten uns die Nähe zu Gott an. Mit ihnen zusammen, die bereits ihr letztes Zuhause gefunden haben, können wir vor ihren und unseren Gott hintreten. An ihrer Seite ist Platz für uns. Mit ihnen zusammen können wir beten. Sie kennen uns ja und sie gehören zu uns und wir zu ihnen. Unsere Freuden waren auch ihre Freuden, unsere Ängste und Sorgen auch ihre. Unser Gebet, sie teilen es mit uns, sie machen es sich zu eigen. Unsere Verstorbenen und wir. Ja, sie können mehr für uns tun, als wir für sie. Sie reichen uns die Hände zur Versöhnung, sie bieten uns ihre Gemeinschaft an, und sie laden uns ein, gemeinsam mit ihnen vor Gott zu treten. Rudolf Halffmann, Dechant, Wittlich

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