Vielen Dank, lieber Tag

Meine große Schwester hatte vor ein paar Tagen mal wieder eine Überraschung auf Lager. Mit der Botschaft, sie sei dabei, die Koffer zu packen, um den Heiligen Kühen in Indien einen Besuch abzustatten, überreichte sie mir einen Brief, der mich vom Hocker warf.

Es handelte sich um ein Feldpostschreiben aus Russland, das mein Vater meiner Mutter im Winter 1944 hatte zukommen lassen. Ein paar Monate zuvor hatten die beiden während eines Heimaturlaubs geheiratet. Natürlich werde ich einen Teufel tun, auf den (ohnehin zurückhaltenden) Inhalt dieses Briefes einzugehen. Nur so viel kann ich sagen: Die beiden Turteltauben warteten wirklich sehnsüchtig darauf, sich endlich wiederzusehen. Nun weiß man aus ebenso zahllosen Büchern wie Erzählungen, in welcher Situation sich die Soldaten seinerzeit befunden haben. Was mich deshalb besonders wunderte, war, dass mein Vater in dem Brief an seine junge Frau vollkommen darauf verzichtete, irgendwelche Nöte oder Ängste auch nur im Ansatz anzudeuten. Stattdessen beließ er es bei ein paar lieben Sätzen und dem geraden Blick nach vorne, bald wieder vereint zu sein, um ein neues Leben aufzubauen. Angesichts dessen fühlte ich mich von der einen auf die andere Sekunde regelrecht gestellt und als jemand enttarnt, der eigentlich stolz darauf sein müsste, zu denen zu gehören, die heutzutage auf derart hohem Niveau jammern dürfen. Seitdem mir das klar ist, steht es sich morgens wieder richtig gut auf. In diesem Sinne fällt es mir auch ausgesprochen leicht, Ihnen heute aus voller Überzeugung einen ebenso fröhlichen wie unbeschwerten und erfolgreichen Tag zu wünschen! Manfred Reuter In der neuen Kolumne "Guten Morgen" beschreiben wechselnde Autoren ihre Gedanken zum Tag.

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