Der allerschönste Weihnachtsbaum

WITTLICH. Die Weihnachtszeit ist auch immer die Zeit der Erinnerungen an die eigene Kindheit. Jürgen Schmidt erinnert sich an ein schönes Fest in schwierigen Zeiten.

Es war in der Woche vor Weihnachten im Jahre 1947. Unser Vater war durch Kriegsereignisse erkrankt und die Not war groß. Wir konnten wieder in unsere Wohnung zurück. Einiges war im Kriege kaputtgegangen oder nicht mehr da, aber der Weihnachtsschmuck von der Großmutter aus Thüringen war noch da. Silberne hauchdünne Glaskugeln und silbernes Lametta, immer fein sorgfältig Fädchen für Fädchen aufgehangen, wieder abgenommen, glatt gemacht und verpackt in einem Karton im Keller. Wenige Tage vor Weihnachten sagte mein älterer Bruder (14) zu mir (12): "Ich besorg' einen Weihnachtsbaum und du gehst mit." Widerspruch beim großen Bruder war zwecklos

Wenn der große Bruder das so bestimmt sagte, war Widerspruch zwecklos. Wir wohnten in der Himmeroder Straße. Unsere Eltern wussten nicht, was wir vorhatten, als wir nachmittags loszogen. Mit einem Fuchsschwanz unter der Jacke marschierten wir den Sporgraben hinauf. Mein Bruder sagte: "Da oben an der Forstschule finden wir sicher einen Weihnachtsbaum." Am helllichten Tage kann man natürlich keinen Weihnachtsbaum besorgen, deshalb warteten wir die Dämmerung ab und hielten dann Ausschau nach einem Bäumchen für uns. Aber nichts da, an der Forstschule am Affenberg standen nur dicke, hohe Bäume, die nicht in unser Wohnzimmer passten. Schließlich entschied mein Bruder: "Ich schneid' oben ein Stück ab." Über meine gefalteten Hände und meine Schultern stieg er auf einen Nadelbaum, in dem er nach oben verschwand. "Pass' auf, wenn jemand kommt!" rief er noch und dann hörte ich noch von oben ritsche-ratsche und nach ein paar Minuten tönte es von oben: "Pass' auf, er kommt!" und unser Weihnachtsbaum rutschte zu Boden. Über dunkle Umwege schleppten wir unseren etwa drei Meter langen Baum nach Hause. Im dunklen Sporgraben, in dem damals nur wenige Häuser standen, schmetterten wir: "O Tannenbaum, o Tannenbaum, wir haben einen Weihnachtsbaum." Unser überraschter Vater war gar nicht begeistert von dem, was wir da in unsere Wohnung zerrten. "Was habt ihr denn da für ein Prachtexemplar!", rief er. Nun, bei Licht betrachtet hatte unser Baum von oben eine etwa ein Meter lange gakelige Spitze, dann kam ein kleiner Astkranz, dann 1,50 Meter lang nichts und unten nochmals ein paar Äste. Im Wald sah er fiel schöner aus. Mein Bruder meinte, den könnten wir nicht aufstellen, während ich die Meinung vertrat: "Wenn wir das Lametta etwas länger hängen, geht es vielleicht." Unser Vater hatte die Lösung: "Wenn ihr noch ein paar Tannenzweige besorgen könnt, dann bohren wir hier in die Mitte, wo nichts ist, ein paar Löcher in den Stamm, in die wir die Äste stecken." Aus zwei mach eins: Baum wird zusammengesetzt

Also zogen wir am nächsten Tag - wieder in der Dämmerung - nochmals los zur Forstschule, fanden aber den Baum nicht mehr. Aber wir fanden an anderen Stellen Tannenzweige, die uns gefielen und die wir heimbrachten. Sie waren leider von einem ganz anderen Baum, anders grün und auch stacheliger. Aber das war jetzt egal. Mein Bruder bohrte mit einem Handbohrer nach Anweisung meines Vaters vorsichtig Löcher in den Stamm. Ich spitzte mit einem Küchenmesser die Äste so an, dass sie in die Löcher passten. Als wir fertig waren, hatten wir den schönsten Weihnachtsbaum der Welt. Die eingebohrten Äste hatten zwar kurz nach Weihnachten nur noch wenige Nadeln, aber die Kugeln und besonders das Lametta hingen noch akkurat und das war wichtig. Ach so, beinahe hätte ich es vergessen: Es gab natürlich noch ein gewaltiges Donnerwetter vom Vater wegen unserer eigenmächtigen Baum-Beschaffungsaktion. Aber das war Heiligabend vergessen. Auch das Christkind hatte sich nichts anmerken lassen. Ein Notenständer, gebrauchte Farbstifte mit neuem Spitzer, handgestrickte Strümpfe und eine Tüte mit Plätzchen lagen für mich unter dem schönsten aller Bäume.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort