Eine Reise in die ostbelgische Seele

Deutsch sprechen und Belgier sein. Das ist seit 88 Jahren Realität für die Menschen in Ostbelgien. Wie das zustande kam und welche Folgen das hat, erklärte der Journalist und Universitätsprofessor Hubert Jenniges auf Einladung des Geschichtsvereins Prümer Land.

Prüm. Wenn sich Belgien nach dem Ersten Weltkrieg durchgesetzt hätte, wäre heute der Rhein Grenze des Königreichs. Doch daraus wurde nichts. Ebenso aus dem Plan, wenigstens die Altkreise Prüm, Bitburg sowie Luxemburg Belgien einzuverleiben. Stattdessen mussten sich die Nachbarn im Westen mit dem Gebiet Eupen/Malmedy/St.Vith begnügen. Dies war eine der vielen Informationen, die der aus Manderfeld stammende Journalist und frühere Romanistik-Professor Hubert Jenniges den Zuhörern im ehemaligen Prümer Konvikt aus seiner Heimat mitgebracht hatte.

"Annexion - Assimilation - Autonomie - Die Stellung der Deutschsprachigen in Belgien und ihr Verhältnis zu dem bundesdeutschen Nachbarn" war Titel des Referats, das der Ehrenpräsident des Geschichts- und Museumsvereins "Zwischen Venn und Schneifel" beim Geschichtsverein Prümer Land hielt.

"Trittbrettfahrer der Autonomiebestrebungen"

 Hubert Jenniges. TV-Foto: Harald Jansen

Hubert Jenniges. TV-Foto: Harald Jansen



Dabei nahm er die Zuhörer mit auf die seit 88 Jahren währende Reise in die ostbelgische Seele.

Bis 1920 hätten die heutigen Ostkantone zum Deutschen Reich gehört. Im Versailler Vertrag wurden die Gebiete dann zwangsweise ans Königreich angeschlossen. "Die geplante Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Belgien oder Deutschland hat es nie gegeben", sagte Jenniges. In der Zeit zwischen den Weltkriegen habe dann eine Belgisierung stattgefunden. Das Französische sollte das Deutsche verdrängen.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht hätten die Ostbelgier weiter mit Identitätsproblemen zu kämpfen gehabt. "Es war nicht das Deutschland von 1920, von dem man träumte", sagte Jenniges.

Die Situation habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg verschärft. Die Grenzen seien über Jahre hinweg nahezu dicht gewesen. Die Stadt St. Vith war beispielsweise zu 100 Prozent zerstört gewesen. Fast jeder vierte Einwohner musste sich wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen verantworten. Und auch in Schule und Unterricht wurde Deutsch wieder zurückgedrängt.

"Ohne Französisch konnte man nach dem Krieg keine Karriere machen", sagte Jenniges. Hinzu sei gekommen, dass Deutschland das Deutschtum im Ausland ignoriert habe.

Erst die eher zufällig entstandene Autonomie der Deutschsprachigen Gemeinschaft habe dem Selbstvertrauen der rund 75 000 deutschsprachigen Belgier wieder Auftritt gegeben. "Wir sind die Trittbrettfahrer der Autonomiebestrebungen in Belgien", sagte Jenniges.

Angesichts der ständigen Staatsrevolution im Königreich sei es schwer, in die Zukunft zu blicken. Erfreulich sei, dass das Zugehörigkeitsgefühl zur Eifel immer stärker werde.

Es entstehe eine regionale Identität. Trotzdem gebe es ein "gewisses Liechtenstein-Gefühl", sagte Jenniges. Schließlich genieße die Deutschsprachige Gemeinschaft einen nahezu einmaligen Minderheitenschutz.

Extra Ostbelgien. Das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist 854 Quadratkilometer groß. Es erstreckt sich auf einem Streifen im Osten Belgiens längs der deutschen Grenze bis zum Dreiländereck bei Ouren. Das Territorium besteht aus zwei unterschiedlich strukturierten und vom Hohen Venn geografisch getrennten Gebieten: dem Eupener Land im Norden und der belgischen Eifel im Süden. 75 000 Menschen leben dort. Die Region wird als Neubelgien, Ostkantone oder Ostbelgien bezeichnet. (har)

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