Fast so alt wie die Synagoge

Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar erinnert an alle Opfer des Nationalsozialismus. Der TV nimmt diesen Tag zum Anlass, an Alice Levy zu erinnern. Die in Wittlich geborene Jüdin emigrierte in den 1930er Jahren in die USA. Dort starb sie im August 2013 im Alter von 102 Jahren. Sie war die älteste in Wittlich geborene jüdische Bürgerin.

Die ehemalige Wittlicher Synagoge war im November 1910 feierlich eingeweiht worden. Wenige Monate später, am 18. April 1911, kam in der Wittlicher Karrstraße 32 Alice Mendel zur Welt. Sie war das erste Kind des Viehhändlers und Metzgers Oskar Mendel und seiner aus Schweich stammenden Frau Irma. Der Bruder Fritz wurde 1913 in Wittlich geboren. Nach dem Besuch der Höheren Stadtschule absolvierte er eine Lehre als Metzger, und nach der Gesellenprüfung im Sommer 1930 unterstützte er seinen Vater im Geschäft. Schwester Edith, 1919 ebenfalls in Wittlich geboren, musste schon 1934 als "Nicht-Arierin" die Ursulinen-Schule verlassen. Sie wollte Kindergärtnerin werden.Eltern sterben 1942 im Ghetto


Alice Mendel hatte 1934 in Wittlich den Handelsmann Hugo Levy aus Niederemmel geheiratet. Während ihre Geschwister Fritz und Edith ihre Heimatstadt 1937 über Cherbourg beziehungsweise Amsterdam Richtung USA verlassen konnten, flüchteten Alice und ihr Mann zunächst nach Luxemburg und gelangten später nach New York. Die Eltern zogen zunächst nach Schweich, wo der Vater von Irma nach einem Schlaganfall versorgt werden musste. Dort wurde ihre Wohnung in der Pogromnacht 1938 geplündert und kurz und klein geschlagen.
Bis zum 7. Dezember 1938 war Oskar Mendel als sogenannter "Aktionsjude" im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert und gehörte damit zu den fast 30 000 deutschen Juden, die nach dem Novemberpogrom gefangen gehalten wurden, um den Auswanderungs- und Arisierungs-Druck zu erhöhen.
Der früher gut gehende Markt- und Stallhandel sowie die Metzgerei in Wittlich waren mit Beginn der Nazi-Zeit stark zurückgegangen. Der Grundbesitz der seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Wittlich ansässigen Familie musste schon 1935 versteigert werden. Das Restvermögen beschlagnahmte das Deutsche Reich, nachdem Oskar und Irma Mendel am 16. Oktober in das Ghetto Lodz/Litzmannstadt deportiert worden waren. Da ein Visum für die USA nicht zu bekommen war, kauften die Kinder für die Eltern Schiffskarten und Visa für Kuba, obwohl sie selbst so gut wie mittellos in New York angekommen waren und im arme Leute-Emigranten-Milieu sich von Washington Heights durchschlagen mussten.
Doch alle Bemühungen zur Rettung der Eltern bleiben vergeblich. Nach Angaben des Internationalen Suchdienstes Arolsen ist das Ehepaar Mendel am 17. April 1942 im Ghetto verstorben. Im Amtsdeutsch der deutschen Wiedergutmachungsbehörden wurde später festgehalten, das Ehepaar sei "aus der Deportation nicht mehr zurückgekehrt". Alice Levys Tochter Marion starb schon mit zehn Jahren an Nierenversagen. Mit dem 1952 geborenen Sohn Harold besuchten Alice und Hugo Levy mehrmals die Bundesrepublik. In der Familie wurde mit dem Sohn nur Deutsch gesprochen. Als Harold Levy 1957 für einige Zeit in einem deutschen Kindergarten angemeldet wurde, musste er mit Befremden feststellen, dass körperliche Züchtigungen an der Tagesordnung waren. Nach dem Besuch der renommierten Bronx High School of Science studierte er Jura in New York und Oxford und arbeitete für große Unternehmen an der Wall Street. Von 2000 bis 2002 amtierte er als Schulkanzler für die öffentlichen Schulen und hatte die Verantwortung für mehr als eine Million Schüler der Metropole. Noch immer ist der mit einer Architektin verheiratete Jurist, der von sich selbst sagt, er spreche "Moseldeutsch", in vielen Bildungs- und Universitätsgremien tätig.
Seine Mutter Alice lebte auch in den Staaten ein einfaches Leben, zwar interessiert am Tagesgeschehen, aber doch stets gedanklich verbunden mit ihrem früheren Leben in Wittlich. Sie las viel - Bücher über Geschichte und sogar Feminismus. Ihren Mann pflegte sie zehn lange Jahre.
Die früheren Nachbarn und Freunde aus Wittlich wie Paul Bender, Arthur Ermann und Frau Bär wurden ebenso oft zitiert wie ihr Lehrer in der jüdischen Volksschule, David Hartmann, dessen Lebensweisheiten sie stark verinnerlicht hatte.
Auf ihr Äußeres legte sie bis zum Ende ihres Lebens wert: "Die Anmut und Demut werden immer ein Teil ihres Vermächtnisses sein. Meine Mutter hielt sich sauber, bestand auf einem stilvollen Kleid und hatte ihr Haar wöchentlich machen lassen", berichtet ihr Sohn Harold, den vor allem die stoische Haltung seiner Mutter trotz aller Widrigkeiten in ihrem Leben stets beeindruckt hat und die bis zuletzt niemanden zur Last fallen wollte. Erst mit 95 Jahren stellte sie das selbstständige Autofahren ein.
Ihre handschriftlichen Briefe nach Wittlich sind von einer Klarheit, die das Alter der Verfasserin kaum ahnen lassen. Die Festschrift zum 100. Jubiläum der Wittlicher Synagoge, die Bürgermeister Rodenkirch ihr geschickt hatte, bereitete ihr große Freude - war sie doch fast so alt wie dieses ehrwürdige Gebäude ihrer früheren Heimatstadt.
Am 13. August 2013 ist Alice Levy, geborene Mendel, friedlich in einem Seniorenheim in New York gestorben - im biblischen Alter von 102 Jahren.Extra

Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar ist in Deutschland seit 1996 gesetzlich verankert. Er bezieht sich auf den 27. Januar 1945, Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee. Veranstaltungen: In der Wittlicher Synagoge referiert am Montag, 27. Januar, 19 Uhr, Joachim Hennig über "Jugend und Jugendwiderstand im Nationalsozialismus". Die Ausstellung "Schule unterm Hakenkreuz" wird eröffnet. In der Galerie Eifel Kunst wird am Samstag, 25. Januar, zwischen 14.30 bis 22 Uhr aus den Werken von Autoren gelesen. Filmemacher Dietrich Schubert zeigt seinen Film "Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen - oder: Wie die Juden in der West-Eifel in die Freiheit kamen". Eine Lesung mit Schriftstellerin Anja Tuckermann ist am Montag, 27. Januar, 11 Uhr, im Bitburger Haus Beda. Um "Neue Erscheinungsformen des Rechtsextremismus" geht es in einem Vortrag am Montag, 27. Januar, um 19 Uhr im Rathaus Gerolstein. Referentin ist Nicola Rosendahl aus Trier. sosExtra

Der Autor Franz-Josef Schmit, seit 1985 wohnhaft in Wittlich, Jahrgang 1954, ist Lehrer am Cusanus-Gymnasium Wittlich und Mitglied im Arbeitskreis "Jüdische Gemeinde Wittlich".

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