Der Abend, an dem Trier nicht Sylt ist

Trier · Alte Lieder von alten Bekannten: Kettcar haben am Freitagabend unter freiem Himmel auf der Ex-Haus-Sommerbühne 1000 Menschen bewiesen, warum in besonderen Momenten niemand ausgefeilte Bühnen-Choreografien und vollmundige Liebesbekundungen an das Publikum vermisst.

 Und noch mal mit Gefühl: Marcus Wiebusch, Gitarrist und Sänger der Band Kettcar, beim Open-Air-Konzert im Exhaus in Trier. TV-Foto: Sven Eisenkrämer

Und noch mal mit Gefühl: Marcus Wiebusch, Gitarrist und Sänger der Band Kettcar, beim Open-Air-Konzert im Exhaus in Trier. TV-Foto: Sven Eisenkrämer

Trier. "Hetero und männlich, blass und arm, weil wir bleiben, wie wir waren." (Im Taxi weinen)

Etwas fehlt. Die Klamotten zu unauffällig, das Haupthaar zu dünn, das Verhalten zu durchschnittlich. Echte Rock- und Popstars gebärden sich anders. Und sehen vor allem anders aus. Schillernder, cooler, auffälliger. Wie gut, dass das niemand von Kettcar erwartet oder gar verlangt. Die fünf Hamburger sind keine Band, mit deren Poster sich 14-jährige Mädchen das Zimmer tapezieren. Kettcar ist in erster Linie eine Band, deren anspruchsvolle Texte in den Köpfen ihrer Zuhörer hängen bleiben, sich einnisten und nie wieder verschwinden. Ob man will oder nicht.

"Nur weil man sich so dran gewöhnt hat, ist es nicht normal, nur weil man es nicht besser kennt, ist es nicht, noch lange nicht egal." (Deiche, das erste Lied des Konzerts)

Wie wahr, wie wahr: Man kann sich schnell an den Einheitsbrei im Radio gewöhnen - man muss es aber nicht. Kettcar zeigt, dass es auch anders geht. Ziemlich unprätentiös betreten sie die Bühne - genau so verlassen sie sie nach knapp zwei Stunden wieder. Dazwischen gibt es zur Freude des Trierer Publikums viele alte Songs: Ausgetrunken, Landungsbrücken raus, Academy - alle vom ersten Album "Du und wieviel von deinen Freunden". Die, denen das neue und dritte Album "Sylt" trotz einiger sperriger Lieder aufs zweite Hören doch richtig gut gefällt, haben Pech gehabt. Trier ist eben nicht Sylt, und an diesem Abend hat Sylt hier auch wenig zu suchen: Im Trierer Ex-Haus haben Kettcar zu Beginn des neuen Jahrtausends und der eigenen Band-Karriere einige ihrer ersten Auftritte hingelegt.

Ein neues, noch nicht veröffentlichtes Lied (Arbeitstitel: Der apokalyptische Reiter) spielt die Band. Aber in erster Linie ist Kettcar 2009 in Trier ein Abend der Erinnerung.

"Dieser Abend kein Fehler, und wenn dann nicht meiner. Ich bin kein Verräter und fühl mich wie einer."(Am Tisch)

Sich selbst verraten? Schwer vorstellbar bei einer Band, die sich ihres Anspruchs bewusst ist und ihn deshalb auch konsequent verfolgt. Das Perfekte an Kettcar: die Unvollkommenheit. Da "ist ein paar Mal was schiefgegangen, weil wir jetzt länger nicht mehr aufgetreten sind", sagt Gitarrist Erik Langer hinterher im Gespräch mit dem TV. Egal: drüber lachen, weitermachen. Oder, um es mit dem Song "Einer" vom zweiten Album zu sagen: "Pferde satteln, weiterreiten!" Wer braucht Perfektion, wenn er stattdessen ungekünstelte Ehrlichkeit und Offenheit bekommt?

"Manche sagen es wär einfach, ich sage es ist schwer, denn du bist Audrey Hepburn und ich Balu, der Bär, ( ), manche sagen es wär einfach, ich sage es ist heikel, du bist New-York-City, und ich bin Wanne-Eickel." (Balu)

Die ehrlichste Liebeserklärung aller Zeiten ist das, worauf die Trierer die ganze Zeit gewartet haben. Kettcar erfüllt den Wunsch ganz zum Schluss. Sie bedanken sich mit "Balu" beim Publikum, nicht mit 08/15-Sprüchen im Zehn-Minuten-Takt.

Danke, Kettcar! Danke, dass ihr aus Trier keine Schafsherde macht, die sinnlose Silben nachblöken muss. Danke, dass Trier nicht das beste Publikum der Welt war.

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