Trier: "Festung Europa" uraufgeführt

Europa auf dem Abstellgleis: Neue Wege hat das Theater Trier am Wochenende mit der Uraufführung der "Festung Europa" im Kürenzer-Bahn-Werkbeschritten. „Festung Europa“ ist ein Beitrag zum zeitgenössischen Autorenfestival „Maximierung Mensch“, das am 27. Mai in Trier beginnt.

(dpa) Sie sitzen an einem Abstellgleis in einem Trierer Bahnwerk. Zwischen Waggons und Gleisen debattieren sie über Europa und ihre zerschlagenen Träume. Sie verstehen sich nicht: Jeder redet nur für sich selbst — und alle wollen weg. Ein Horrorszenario über ein gescheitertes Europa im Jahr 2020 ist es, das der belgische Autor Lanoye in seinem Werk „Festung Europa“ aufbaut. Es berührt, es entsetzt, und es verwirrt. So ist es auch ein nachdenkliches Publikum, das die Uraufführung des Stücks am Sonntagabend in Trier hinterlässt. Die ausdrucksstarke Aufführung wurde zwar mit minutenlangem Beifall belohnt. Fragend, diskutierend und vielleicht auch ein bisschen ratlos verließen die Zuschauer jedoch am Abend den Spielort und fuhren mit einem Sonderzug aus dem Werk zurück zum Bahnhof.
Die „Bühne“ in der hintersten Ecke des Bahnwerks stehe symbolisch für den Zustand, an dem Europa in dem neuen Stück Lanoyes angekommen sei: „Die großen Visionen haben sich bei den sechs Akteuren nicht erfüllt. Europa ist zum Stillstand gekommen“, sagte der Chefdramaturg des Theaters Trier, Peter Oppermann. Traurige Gestalten sind es, die in Kleidung der 60er Jahre ihrer Vergangenheit nachhängen und nacheinander ins Mikrofon oder eine laufende Kamera sprechen. Auf Deutsch, Niederländisch, Französisch und Luxemburgisch liefern sich die Schauspieler wirre Wortgefechte ohne Zusammenhang. Die Themen reichen von Kathedralen über Eisblumen und Karl Marx bis zum Parmaschinken.
Ziel der Aufführung sei, die Zuschauer zu verwirren, sagte Oppermann. „Mit der Polemik, der Überhöhung, den Voreingenommenheiten und Vorurteilen will das Stück provozieren und zum Nachdenken anregen.“ Was auch gelingt. Nicht nur, als Schauspieler Peter Singer nach einem Monolog über Kommerz und Kapital die Zuschauer auffordert „Denken Sie mal selber“ oder Akteurin Nora Koenig das Publikum anbrüllt „Wo bleibt denn Ihre Zivilcourage?“. Ernst und ruhig wird es im Publikum, als die Schauspieler flach und dümmlich über Juden, Belgier, Schwarze und Russen herziehen. Dankbares Aufatmen dann, als ein Musik-DJ Nicoles „Ein bisschen Frieden“ einspielt.
Den Wiener Regisseur Ali Abdullah aus Wien hat bei der Inszenierung besonders begeistert, wie Lanoye „die Idee eines zukünftigen Europas ad absurdum führt“. Es sei spannend zu sehen, „mit welchen Ideen er operiert und geschichtliche Querverweise heranführt“, sagte Abdullah. Der Aufführungsort, den die Bahn mit dem Hinweis „Der Besuch der Theaterveranstaltung geschieht in jeder Hinsicht auf eigene Gefahr des Besuchers!“ zur Verfügung stellte, helfe bei der thematischen Umsetzung ungemein. „Hier haben sich Menschen in eine Sackgasse zurückgezogen, hängen der Vergangenheit nach und versuchen Europa nachzuempfinden.“ Lanoye gehört zu den renommiertesten belgischen zeitgenössischen Autoren.
Das Stück mit dem Untertitel „Hohelied der Zersplitterung“ hat den Schauspielern viel Raum gelassen — für ihren eigenen nationalen Hintergrund — und Improvisationen. „Es sind sechs Privatleute, die sich auf der Grundlage des Textes Europa annähern“, sagte Dramaturg Oppermann. Daher finden sich auch Passagen über die benachbarten Luxemburger oder lokalgeschichtliche Anekdoten in dem Stück. Gewollt sei daher auch, dass das Spiel teils wie ein Probe wirke. So gehören gegenseitige Ansagen wie „Mach mal die Musik aus“ oder „Du bist dran“ genauso dazu wie kollektives Biertrinken und Pommes-Frites-Essen.
Lanoye ist in Deutschland für seine Bearbeitungen klassischer Werke bekannt, wie etwa beim Theaterstück „Mamma Medea“ nach der griechischen Tragödie Medea des Euripides.

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