"Auch Deutschland steht im Fokus der IS-Terroristen" - Volksfreund-Interview mit Islamwissenschaftler Marwan Abou-Taaam

Mainz/Trier · Wer den selbst ernannten Islamischen Staat bekämpft, der wird selbst bekämpft - egal wo. Das ist eine Botschaft hinter den Anschlägen von Paris, sagt der Islamwissenschaftler Marwan Abou-Taam. Mit dem Terrorismusexperten sprach Volksfreund-Redakteur Rolf Seydewitz.

"Auch Deutschland steht im Fokus der IS-Terroristen" - Volksfreund-Interview mit Islamwissenschaftler Marwan Abou-Taaam
Foto: ARRAY(0x2449506c8)

Was war Ihr erster Gedanke, nachdem Sie von der Anschlagsserie erfahren haben?
Abou-Taam: Genau das haben wir nicht gebraucht, war mein erster Gedanke. Die Gefahr besteht, dass ein solcher Anschlag sich auf die aktuelle Flüchtlingsdiskussion auswirken und zu Polarisierungen führen könnte.

Wissen Sie, ob es irgendwelche Anzeichen gab?
Abou-Taam: Organisationen wie der sogenannte Islamische Staat oder El Kaida werden immer dort zuschlagen, wo sie die Möglichkeit dazu bekommen. Es gab keine konkreten Anzeichen. Aber westliche Staaten sind immer potenzielle Terrorziele.

Was bezweckt der IS mit den Anschlägen in Europa? Ist es ein Strategiewechsel?
Abou-Taam: Es wird sich noch herausstellen, ob sich der IS tatsächlich loslöst von der konkreten Auseinandersetzung im Irak und in Syrien und sich globalisiert. Aber auf jeden Fall hat der IS ein Interesse daran, sich als global handelnde Organisation darzustellen. Anschläge wie die in Paris tragen dazu bei. Andererseits will man Staaten wie Frankreich, die in den Konflikt in Syrien aktiv eingreifen, zeigen: Wir können auch bei euch zuschlagen.

Wie gefährdet ist Deutschland?
Abou-Taam: Deutschland wird immer wieder in IS-Verlautbarungen erwähnt und als Kreuzritterstaat bezeichnet. Insofern steht auch Deutschland im Fokus des IS, zumal Deutschland auch die gegen den Islamischen Staat kämpfenden Kurden im Irak aktiv unterstützt. Deutschland und Frankreich werden als das Herz westlicher Kultur angesehen.

Warum kommen so viele radikalisierte Muslime aus Belgien?
Abou-Taam: Ich weiß nicht, ob man das tatsächlich auf Belgien fokussieren kann. Wichtig ist die Feststellung, dass in den terroristischen Kreisen offensichtlich grenzübergreifend gearbeitet wird.

Wie werden die jungen Menschen rekrutiert und radikalisiert?
Abou-Taam: Hier gibt es verschiedene Aspekte: Natürlich spielt die salafistische Szene vor Ort eine Rolle, aber selbstverständlich auch das Internet.

Gibt es auch in Deutschland Anwerbeversuche?
Abou-Taam: Aus Deutschland sind ja auf der Grundlage dieser Ideologie bereits 750 Menschen nach Syrien gegangen und teilweise wieder zurückgekommen. Also: Auch in Deutschland gibt es eine radikalisierte Szene.

Wie ist die Situation in Rheinland-Pfalz?
Abou-Taam: Rheinland-Pfalz ist Teil der Bundesrepublik und steht damit auch im Fokus. Es gibt allerdings keine konkreten Anzeichen für einen möglicherweise bevorstehenden Anschlag.

Inwiefern gibt es eine Chance, potenzielle Terroristen aus ihrem Milieu zu lösen?
Abou-Taam: Das Wichtigste wäre, die Betroffenen erst gar nicht in die extremistische Szene abdriften zu lassen. Es geht also um Sensibilisierung und Prävention. Die Frage der Deradikalisierung ist eine sehr komplexe: Dafür bedarf es eines Netzwerks aus Sozialarbeitern und Lehrern. Aber auch Repression ist notwendig.

Repression ist das Stichwort: Wie kann man den Islamischen Staat bekämpfen?
Abou-Taam: Man muss entschlossen sein. Dann schafft man das auch.

Was ist der Unterschied zwischen IS und El Kaida?
Abou-Taam: Ideologisch ist es dieselbe Organisation. Es gab Streit um die Führung, das führte zur Spaltung und zu einer Rivalität zwischen Islamischem Staat und El Kaida. Scheinbar hat IS den Anspruch, El Kaida zu verdrängen. Damit wäre zu erklären, dass der IS global aktiv wird.

Blicken wir nach vorne: Wie wird sich die Situation entwickeln?
Abou-Taam: Entweder man schafft es, diese Ideologie einzudämmen. Oder wir werden es weiter mit Terroranschlägen zu tun haben. Extra

Der Politik- und Islamwissenschaftler Marwan Abou-Taam (40) arbeitet beim Mainzer Landeskriminalamt im Bereich Analyse und strategische Auswertung. Der gebürtige Libanese promovierte über islamistischen Terrorismus. sey

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