Die Zerlegung des Nachbarn

Moskau · Brisantes Material zum Ukraine-Konflikt: Die oppositionelle russische Zeitung Nowaja Gaseta berichtet über ein Kreml-Strategiepapier, das erklären könnte, warum Russland sich eingemischt und die Krim annektiert hat.

Moskau. War der ukrainische Ex-Präsident Viktor Janukowitsch noch zu retten? Ein Strategiepapier, das der oppositionellen russischen Zeitung Nowaja Gaseta aus der Kremladministration zugespielt worden sein soll, stellt schon im Februar 2014 ohne Umschweife fest: Das System Viktor Janukowitsch ist politisch bankrott. Der Präsident hat die Kontrolle längst verloren. Es lohnt sich für Russland nicht mehr, ihn noch zu unterstützen. Das Papier soll zwischen dem 4. und 12. Februar 2014 im Kreml eingetroffen sein. Die Zeitung beruft sich auf eine seit Jahren verlässliche Quelle im Umfeld der Macht, von der sie nie enttäuscht worden sei.
Am 4. Februar 2014 hatte der noch amtierende Präsident der ukrainischen Opposition Neuwahlen versprochen. Daraus würde aber kein Politiker hervorgehen, der mit Russland zu einem Dialog bereit wäre, heißt es unter Punkt 1 des "Dokuments".
Neuwahlen könnten die Desintegration der Ukraine noch beschleunigen, heißt es in dem Papier weiter. "Die EU und die USA lassen dies auch zu" - und seien bereit, das Land "zu schlucken".
Daher fordert das Papier, Russland müsse "pragmatisch" werden, die "geopolitische Herausforderung" der EU annehmen und "sich einmischen". Andernfalls riskiere Moskau den Verlust des ukrainischen Marktes und den Zugriff auf das Gasnetz. Das Mitwirken an der Desintegration oder "Föderalisierung" der Ukraine würde hingegen den "integrativen Projekten" Russlands neue Impulse verleihen, die "geopolitische Ausgangslage in Zentral- und Osteuropa erheblich verändern" und Moskau wieder eine entscheidende Rolle zuweisen.Einverleibung der Krim als Ziel


Unter "integrativen Projekten" ist die allmähliche Einverleibung der Krim und weiterer Regionen von Charkiw bis Odessa gemeint. Die empfohlenen Maßnahmen decken sich auch mit dem späteren russischen Vorgehen auf der Krim, in Luhansk und in Donezk. Zunächst sollten prorussische Kräfte aufgebaut und ziviler Widerstand geschürt und zugleich die Befürworter einer Assoziation mit der EU als profaschistische Kräfte denunziert werden.
Sollte der Plan tatsächlich echt sein, so folgte die Wirklichkeit nicht ganz der Vorlage. In mehreren Regionen wie Charkiw, Dnipropetrowsk, Saporosche oder Odessa ließ sich kein nennenswerter prorussischer Widerstand organisieren. Die Strategen überschätzten den Zuspruch zu Russland deutlich. Das könnte auch erklären, warum in dem Szenario nirgends der Einsatz von Militär vorgesehen war. Stattdessen geht es um Gas, Geld und Geopolitik. Der kriegerische Eingriff ist also eine Notlösung gewesen, nachdem sich herausstellte, dass die Regionen nicht wie Fallobst in den russischen Schoß kullern.
Noch etwas wäre bemerkenswert, sollte das Papier echt sein: Der Kreml behauptet bis heute, erst der "Putsch" gegen Janukowitsch habe Moskau zum Eingreifen genötigt. Offensichtlich stand das Schicksal des Präsidenten bereits vorher fest. Die EU-Emissäre, die als Friedensstifter anreisten, ließen sich im Nachhinein noch als wortbrüchige Verursacher des "Staatsstreichs" in das Drehbuch einbauen.
Als Urheber des Textes nennt die Nowaja Gaseta den "orthodoxen Oligarchen" Konstantin Malofejew, der über enge Kontakte zu den Separatisten im Donbass verfüge. Er gilt auch als einer der Strippenzieher, die für den Kreml Beziehungen zu europäischen Rechten unterhalten. Malofejew teilte unterdessen mit, er werde die Zeitung wegen der vermeintlichen Urheberschaft verklagen.
"Diese Zeitung veröffentlicht manchmal unglaubliche Berichte", sagte Putins Pressesprecher zu dem Bericht. Sollte es das Papier geben, so habe es nichts mit dem Kreml oder der offiziellen russischen Position zu tun.

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