"Ein Schuss ins Knie"

Mainz · Mit Unverständnis und Ärger reagieren noch immer viele Grüne im Land auf das achtseitige Papier zur Flüchtlingspolitik, das Fraktionschef Köbler vergangene Woche vorgestellt hat. Sie fühlen sich überrumpelt. Die Kritik an Köbler wächst.

Mainz. Geschlossenheit demonstrieren. Ja nicht weiteres Öl ins Feuer gießen. Das ist derzeit die Devise bei den rheinland-pfälzischen Grünen. Demonstrativ verteidigen die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion, Anne Spiegel, und Fraktionschef Daniel Köbler die Asylpolitik der Grünen. Eine Politik, die bisher ausschließlich auf Willkommenskultur und das Gelingen einer Integration gesetzt hat. Eine Politik, die von der Basis nicht kritisiert wurde. Trotzdem hat Köbler mit einer irritierenden Pressekonferenz am vorigen Freitag dafür gesorgt, dass bei vielen Basis-Grünen der Eindruck entstanden ist, die Partei wechsele ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik (der TV berichtete).
Köbler sprach über ein Papier, in dem - ähnlich wie in dem umstrittenen Plan A 2 von CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner - von Einreisezentren (Hotspots) an den EU-Außengrenzen und einer Steuerung der Zuwanderung die Rede ist. Bislang war eine Begrenzung der Zuwanderung bei den rheinland-pfälzischen Grünen kein Thema. Seit es das ist, bemüht sich Köbler zu betonen, es handele sich nicht um eine Wende in der grünen Flüchtlingspolitik, und man fordere auch weiterhin keine Obergrenzen. "Es wird keine neuen Akzente geben", sagen Köbler und Spiegel. Eigentlich hätten beide am Freitag Journalisten die Kernpunkte des Papiers erläutern sollen. Eine angekündigte Telefonkonferenz wurde aber kurzfristig abgesagt, und Köbler trat persönlich und allein vor die Presse - ohne das Papier zu verteilen. Weil es noch nicht abgestimmt sei, so Köbler. Der Grünen-Landesvorstand war an dem Papier nicht beteiligt und wurde davon selbst überrascht.Landtagswahl 2016


Wie auch die Basis. Dort haben die acht Seiten, überschrieben mit "Für einen umfassenden Ansatz in der Flüchtlingspolitik! Unser grünes Konzept", reichlich Unmut und Ärger ausgelöst. "Wir wurden im Kreisverband auch von dem Papier überrascht, sind mit dieser Vorgehensweise nicht einverstanden und haben weiteren Klärungsbedarf", sagt der Landtagsabgeordnete und Kreisvorsitzende im Vulkaneifelkreis, Dietmar Johnen. Nach der Wahl will er in einer Mitgliederversammlung über das Papier reden, "auch im Hinblick eines Parteitages, an dem solche Papiere diskutiert und beschlossen werden".
Der Inhalt kommt wohl nur zu Teilen von den rheinland-pfälzischen Grünen. Deren Integrationsministerin Irene Alt hat mitgewirkt - und auch Köbler. Es scheint größtenteils aus Teilen der Grünen-Bundestagsfraktion zu stammen. Bereits Ende Dezember hatten unter anderem die flüchtlingspolitische Sprecherin Luise Amtsberg und Manuel Sarrazin, europapolitischer Sprecher der Fraktion, ein Papier zur Diskussion gestellt, in dem von Erstaufnahmestellen an EU-Grenzen und einer besseren Verteilung der Flüchtlinge in Europa die Rede war. In der Grünen-Bundestagsfraktion wurde das Papier allerdings mehrheitlich abgelehnt und verschwand dann wohl zunächst einmal in der Versenkung. Bis vorigen Freitag.
Der Zeitpunkt, den Inhalt des Papiers vorzustellen, sei bewusst vor dem anstehenden EU-Gifpel am kommenden Montag gewählt worden und habe nichts mit der Landtagswahl zu tun, sagt Köbler. Er sieht in dem Diskussionspapier einen Beitrag, die Bundeskanzlerin in ihrem Bestreben nach einer europäischen Lösung zu unterstützen.
Einigen führenden Grünen-Politikern in der Region geht diese Unterstützung zu weit. Man könne hinter Merkels Haltung stehen, dürfe aber nicht kritik- und vorbehaltlos ihre Flüchtlingspolitik, und vor allem ihre Annäherung an die Türkei, in der es schließlich Menschenrechtsverletzungen gebe, hinnehmen, sagt ein Grünen-Politiker. "Das Papier gehört in die Tonne." Eine Grünen-Politikerin aus der Region nennt es "großen Bockmist". Damit werde das Vertrauen der Parteimitglieder in die Flüchtlingspolitik der Grünen bis zur Wahl und darüber hinaus tief erschüttert. Sie erwartet, dass jemand dafür Verantwortung übernimmt. Die beiden Spitzenkandidaten, Köbler und Eveline Lemke, sollten sich öffentlich von dem Papier distanzieren und sagen, dass es ein Fehler gewesen sei, fordert die Politikerin.
Auch Karl-Wilhelm Koch aus Mehren (Vulkaneifel) ist sauer auf seine Partei. Koch gilt bei den Grünen als Querdenker. Mit den Parteioberen ist er selten auf einer Linie. Durch das Papier sieht sich Koch bestätigt und hat daher kein Problem damit, auch namentlich zu seiner Kritik zu stehen. "Ein Schuss ins Knie" und "ein absolutes Unding" sei das, sagt er. Köbler müsse die Verantwortung dafür übernehmen.
Der Genannte hat zwar mittlerweile reagiert - sich aber nicht von dem Papier distanziert. Allenfalls versucht er, die Wogen zu glätten: In einer gemeinsamen Pressemitteilung mit dem parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen, Niels Wiechmann, der zuvor ebenfalls heftige Kritik geübt hat, spricht Köbler nicht mehr von Hot-Spots und Einreisezentren, sondern davon, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen "die wirksamste Strategie zur Reduzierung der Zahl der flüchtenden Menschen" sei. Zudem ist von einem neuen solidarischen Verteilungssystem für Flüchtlinge in Europa die Rede. Fragt sich, ob der Fraktionschef damit die Kritiker in den eigenen Reihen besänftigen kann.

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