Friedenssignale hin, Friedenssignale her: Die Nato trainiert den Ernstfall

Bydgoszcz (Polen) · Als Reaktion auf die Krise hat der Gipfel der Staats- und Regierungschefs Anfang September in Wales beschlossen, die Truppenpräsenz in den Mitgliedstaaten Osteuropas zu erhöhen - über eine schnelle Eingreiftruppe, die in wenigen Tagen vor Ort sein kann, sowie mehr Manöver und Übungseinheiten. Die Nato-Militärs setzen den Auftrag jetzt um.


Bydgoszcz (Polen). Der Gegenangriff erfolgt vor dem Morgengrauen. Landungsboote bringen Nato-Soldaten an die Strände der estnischen Insel Hiiumaa, die vom großen Nachbarstaat erobert worden ist. Das Brüsseler Hauptquartier der Allianz hat den Bündnisfall ausgerufen, eine Truppe von 40 000 Mann ist zusammengestellt worden. Der deutsche Vier-Sterne-General Hans-Lothar Domröse leitet die Operation zur Befreiung des besetzten Nato-Gebiets. Im Lagezentrum herrscht gespannte Atmosphäre. Alle wissen, dass die schwersten Kämpfe erst bevorstehen. Auf der Videoleinwand prangt die Karte Estlands, im Norden der Insel Hiiumaa sind die Stellungen der roten Armee markiert.
In den tageslichtlosen Räumen des Trainingszentrums im polnischen Bydgoszcz kann man schon mal vergessen, dass es sich glücklicherweise nur um eine Übung handelt. "Es gibt keinen Unterschied zu einer echten Operation", sagt der US-Oberst Donovan Philipps. Das Training für den echten Kampf fällt den 400 extra angereisten Nato-Soldaten umso leichter, weil das Übungsszenario so gespenstisch vertraut wirkt. "Die Übung soll so realistisch wie möglich sein", berichtet der niederländische Generalmajor Hans van Griensven, der sie mit seinem Stab konzipiert hat, " gerade auch im Hinblick darauf, was Russland in der Ukraine gemacht hat."
"Als Rückversicherung für unsere Mitgliedstaaten führen wir nun deutlich mehr Übungen zur Landesverteidigung durch", erzählt Kommandeur Domröse in seinem Büro. Für die Ostflanke interessierte sich die Nato lange nicht mehr. Das aber hat sich in diesem Jahr geändert. "Wir haben einen potenziellen neuen Feind", stellt der Deutsche nüchtern fest, "und das ist Russland."
Auf der Gefechtskarte im Lagezentrum von Bydgoszcz spielt Russland keine Rolle. Offiziell heißt der Feind in diesem virtuellen Kriegsspiel Bothnien und liegt im Norden, dort wo eigentlich Finnland liegt. Und dass eine Insel annektiert worden ist wie zu Jahresbeginn die Krim, soll angeblich schon viel früher geplant gewesen sein. "Diese Szenarien sind aus der Konserve", sagt der kommandierende Offizier, "sie enthalten aber Elemente des Zeitgeschehens." Das kann man wohl sagen. Der Geheimdienstoffizier berichtet in der morgendlichen Lagebesprechung von Kämpfern ohne Hoheitsabzeichen, die auf Hiiumaa im Einsatz sind - so wie das auf der Krim zu beobachten war. Die Jungen im Team, in Afghanistan geschult, müssen das mit der Landesverteidigung erst wieder lernen. Auch die Niederländer Ton van Loon und Leo van den Born, die alle ihre Schritte begutachten, haben am Hindukusch gedient.
Feuerpause abgelehnt



Aber die Militärrentner, als Beobachter und Berater engagiert, kennen auch die alte Zeit, haben den Kalten Krieg als Soldaten erlebt - und stellen fest, dass die Allianz den strategischen Kurswechsel noch nicht wirklich verinnerlicht hat. "Wir sind nicht da, um Estland zu helfen, sondern der Bündnisfall ist eingetreten. Die Nato befindet sich im Krieg."
In der Übung bieten die Bothnier unterdessen eine Feuerpause an. Sie erhalten ein Ultimatum: Abzug oder Vernichtung. Wie aber hält es die Nato in der Realität mit Frieden und Entspannung? Es gibt doch ein paar hoffnungsvolle Signale nach Gesprächen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem ukrainischen Amtskollegen Petro Poroschenko. Werden die durch die militärischen Muskelspiele nicht behindert? Bundeswehr-Mann Domröse räumt ein, dass es diese Überlegungen gibt: "Wir versuchen bei den Übungen die Balance hinzubekommen, dass sich einerseits die Länder Osteuropas geschützt fühlen, aber andererseits Russland nicht behaupten kann, es werde provoziert."

So eine Übung hat einen Vorteil. Sie endet immer mit einem Sieg. An diesem Freitag auch die Nato-Übung Trident Joust. Die fiktive Pressemitteilung zur Befreiung der Insel Hiiumaa von den bothnischen Aggressoren ist schon fertig.

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