Heimatgeschichte: Der harte Alltag der Speicherer Hausierer im 19. Jahrhundert

Speicher · Speicher (Eifelkreis Bitburg-Prüm) gilt als Töpferdorf. Bis zu neun Krugbäckereien gab es dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mindestens ebenso wichtig war aber ein anderer Wirtschaftszweig: der Hausierhandel. Werner Streit, Leiter des Museums Speicher, hat die Geschichte des Gewerbes erforscht.

Gäbe es so etwas wie eine Rangliste der Geschäftstüchtigkeit, die Handelsleute aus dem kleinen Ort Speicher im Süden der Eifel hätten darauf einen ewigen Spitzenplatz. An Pfiffigkeit, an ihrem Vermögen, immer im richtigen Moment an der richtigen Stelle zu sein, sind sie nicht zu überbieten. So waren sie prompt vor Ort, als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, und sie konnten genau die Waren anbieten, die nach dem Sündenfall am dringendsten gebraucht wurden: Hemdenknöpfe. Später war es dann ein Händler aus Speicher, der dem biblischen Feldherrn Gideon vor Jericho seine Tonkrüge anbot, in denen die Fackeln der Soldaten verborgen werden konnten. Und selbst als Kolumbus seinen Fuß erstmals auf den neu entdeckten Kontinent setzte, wurde er bereits von einem Speicherer Händler erwartet, der von ihm ungeduldig Nachschub an Handelswaren erwartete.
Auch wenn diese lustigen Erzählungen, die früher in Speicher kursierten, klassische Wanderlegenden sind, wie sie zu unterschiedlichen Zeiten an vielen Orten - zum Beispiel auch in Neroth - immer wieder erzählt wurden, so sind sie doch Beleg für den geschäftstüchtigen Wanderbetrieb der Hausierer aus diesem kleinen Eifelort.
Denn Speicher war das Hausiererdorf in der Eifel, der Speicherer war gleichsam ein Synonym für den wandernden Händler schlechthin. Im Jahr 1840 waren von 1860 Einwohnern 186 Wanderhändler, und noch 1923 gab es in Speicher 229 Einwohner, die mit dem Wandergewerbeschein arbeiteten. Der Bürgermeister von Speicher empfand die Hausierer 1891 sogar als "Landplage".
Um 1800 war sicherlich noch das Speicherer Steinzeug das wichtigste Handelsgut der Speichermännchen, wie die Hausierer aus Speicher und Umgebung in Luxemburg genannt wurden. Dazu gehörten große und kleine Steinzeugtöpfe, Öl- und Viezkrüge, Milchtöpfe, Butter- und Essigfässer, Schmucktöpfe, Einmachgeschirr, Tassen, Teller, bis hin zu Wasserleitungsrohren und Mineralwasserkrügen.
Aber um die gleiche Zeit traten neben diese Angebote auch andere Waren. Hemdenknöpfe und Läusekämme waren schon früh Gegenstand der Spottverse auf die armen Speicherer Händler. So wurde über sie in der Gegend von Bitburg in Form der üblichen Ortsneckereien noch bis in die 1960er Jahre gesagt: "Die Speicherer hon sos nichts am Kap, wi numen Hiemerkneäfier on Leeskäm tsu ferkääfen." Die so Geschmähten hatten aber die passende Retourkutsche parat: "Di mus mier ja ferkääfen, wail-d-ier numen de Lääs hoot (weil ihr ja nur die Läuse habt)."Holländischer Käse ...


Auch holländischer Käse wurde ein wichtiges Substituionsangebot. Die Händler importierten ihn entweder selbst aus Holland oder kauften ihn an der Grenze auf und verkauften ihn auf dem Rückweg nach Speicher.
Verklärende Beschreibungen des Lebens der Speicherer verstellen den Blick auf den meist harten Alltag der vagabundierenden Handelsleute. Viele waren bitterarm; oft hatten sie nicht einmal das Geld, um einen der notwendigen Gewerbescheine lösen zu können. Die wenigsten konnten sich einen Karren oder gar ein Gespann leisten. Sie gingen entweder mit der kleineren Hotte oder mit der größeren Reets, beides stabile Rückentragekörbe, auf die Tour. Eine früher weit verbreitete Ortsneckerei beschreibt die wirtschaftliche Situation in Speicher so: "Speicher, Speicher, hijen Tor (hoher Turm), viel Leit und winnig Kor (wenig Korn), viel Krög un winnig Wein - da Deiwel wellt zu Speicher sein."
Die Hausierer blieben oft sehr lange weg. Sie hatten meist ein festes Standquartier bei Familien in Luxemburg, im Saarland oder in der Eifel, wo sie den Sommer über bleiben konnten. Der Nachschub an Waren kam entweder mit dem Schiff über Mosel, Saar und Rhein, mit Beginn der Eisenbahn auch über die Schiene. Später wurden die Waren oft mit der Eisenbahn oder mit Wagen zu Zwischenlagern vorausgeschickt. Manchmal sind aus diesen Zwischenlagern ortsfeste Geschäfte entstanden. Einige der großen Porzellanwarenläden, die noch heute in rheinischen Städten zu finden sind, sind Gründungen ehemaliger Speicherer.

Die Hausierergemeinden Speicher, Niederkail und Landscheid wirkten während der Handelssaison von Ostern bis November oft regelrecht ausgestorben, weil viele Hausiererhäuser geschlossen waren. In Speicher wurde sogar die Kirmes vom Mai auf den Martinstag verlegt, um den Händlern die Möglcihkeit zu geben, an dem Fest teilzunehmen. Erst in der 1970er Jahren wurde die Verlegung wieder rückgängig gemacht.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte der Handel mit Steinzeug und Porzellan nur noch eine untergeordnete Rolle. Geschäftsgrundlage wurden nun Fleisch und Stoffe.... und amerikanischer Speck


Nach der Freigabe der Einfuhr für amerikanische Fleischwaren um 1870 ließen Großhändler amerikanischen Speck und Schinken waggonweise nach Speicher kommen. Die Fleischwaren wurden alsdann hier geräuchert und in der näheren und weiteren Umgebung im Hausierhandel verkauft. Dieser etwas ungewöhnliche Handel mit dem weitgereisten Fleisch wurde jedoch seinerseits schnell verdrängt durch die Hausiererei mit Tuchen und Anzügen, den sogenannten Kluften. Um 1900 existierten in Speicher etwa sechs bis sieben Tuchgroßhandlungen, die die Händler mit dieser Ware versorgten. Gleichzeitig wurde auch mit Zigarren gehandelt. Die Gegend um Wittlich war eines der letzten Tabak-Anbaugebiete nördlich des Mains; hier waren immer noch einige kleinere Tabakmanufakturen in Betrieb und Zigarrendreher bei der Arbeit, so dass sich der Handel mit diesen örtlichen Erzeugnissen praktisch anbot.
Die letzten in dieser langen Reihe von Handelsgütern waren die sogenannten Studenten. Mit dieser seltsamen Bezeichnung sind in der Sprache der Händler Erzeugnisse der industriellen Reproduktionsgrafik gemeint - also Sofa- oder Schlafzimmerbilder, wie sie noch bis in die 1960er Jahre in den Kaufhäusern zu bewundern waren. Die Produktion dieser Chromolithographien, die von älteren Speicherern heute als "Kitschbilder" abqualifiziert werden, hatte seit 1870 durch die gerade erfundene Schnellpresse einen gewaltigen Aufschwung erfahren. Verlage brachten die Drucke in großen Mengen auf den Markt, der damit erstmals Alternativen bot zu den religiösen Votivbildern, die bis dahin in bürgerlichen und Arbeiterhaushalten als Wandschmuck gedient hatten. Nun war der Kolporteur, der umherziehende Bildermann, keineswegs eine Seltenheit. Doch nur selten wurden auch gerahmte Bilder angeboten. Hier hatten die Speicherer Händler offensichtlich eine Marktlücke entdeckt. Sie orderten die Farbdrucke in großen Mengen, um sie in Einrahmungswerkstätten in Speicher zu Rahmen. Wie schon bei den Tuchgroßhandlungen ist es auch hier erstaunlich, wie schnell sich die örtlichen Gewerbe auf die Bedürfnisse der Händler einstellten und an deren Geschäften partizipierten. Das lu-krative Bildergeschäft ging zu Ende, als die Kunstverlage und der ortsansässige Handel begannen, die lästige Konkurrenz mit allen Mitteln zu bekämpfen, so dass die Hausierer bald keine Ware mehr von den Großhandlungen bekamen.
Das Ende der 1920er Jahre war schließlich auch das Ende des Speicherer Hausierhandels. Zwar waren immer noch vereinzelte Wanderhändler unterwegs - so wurde in der Gegend um Bitbug berichtet, dass bis 1933 eine Frau mit einer Traglast die umligenden Höfe mit Töpfen und Krügen versorgte und dafür die dort fabrizierte Butter mitnahm und auf dem Markt in Trier verkaufte - aber das Gewerbe hatte für Speicher keine Bedeutung mehr.Extra

Das Museum in Speicher ist im April dieses Jahres nach vierjähriger Umbauzeit wiedereröffnet worden. Das "Haus der Eifelgeschichte" zeigt auf 400 Quadratmetern historische Gegenstände und Dokumente aus der Region - von keltischen und römischen Funden bis hin zum alten Schulzimmer oder dem Tante-Emma-Laden. Das Museum ist dienstags bis freitags sowie sonn- und feiertags jeweils von 14 bis 17 Uhr geöffnet, für Schulklassen und Führungen auch zu anderen Zeiten (nach Anmeldung). Kontakt: Museum Speicher, Jacobsstraße 59, 54663 Speicher, Telefon: 06562/9319207.

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