"Über die Entscheidung wird sich keine Regierung hinwegsetzen können"

Trier · Leben und arbeiten in Großbritannien werden für EU-Bürger keine Selbstverständlichkeit mehr. So lautet die Einschätzung des Trierer Politikwissenschaftlers Joachim Schild (Foto: TV-Archiv) nach dem Ja zum Brexit. TV-Redakteur Bernd Wientjes sprach mit ihm.

"Über die Entscheidung wird sich keine Regierung hinwegsetzen können"
Foto: (g_pol3 )

Was bedeutet der Brexit für die Bürger? Wie wirkt sich das im Alltag aus?
Joachim Schild: Die britischen Bürger werden sehr rasch mit Preissteigerungen konfrontiert sein, da alle importierten Güter aufgrund der Pfundabwertung teurer werden. Auch werden viele Unternehmen über Standortverlagerungen auf den Kontinent nachdenken mit entsprechenden Arbeitsplatzverlusten für Briten. Der Verfall des Pfundkurses bedeutet umgekehrt für Arbeitnehmer und Unternehmen im Euro-Raum eine verschärfte Konkurrenz, da Importe aus Großbritannien sich verbilligen und den Konkurrenzdruck verschärfen. Urlaube in Großbritannien werden zunächst billiger. Leben und arbeiten in Großbritannien sind nach dem Austritt für die EU-Bürger keine Selbstverständlichkeit mehr. Großbritannien ist dann nicht mehr an die EU-Grundfreiheiten der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit für Unternehmen gebunden. Ein Visumszwang für Reisen nach Großbritannien ist hingegen extrem unwahrscheinlich.
Welche Folgen hat die Entscheidung für die EU?
Schild: Wir erleben eine historische Zäsur. Europäische Integration ist kein unumkehrbarer Prozess. Die EU muss den Austritt eines wirtschaftlichen und außenpolitischen Schwergewichts in einer Situation bewältigen, da sie selbst in schlechter Verfassung ist: Die Folgewirkungen der Finanzmarkt- und Euro-Zonen-Krise sowie der Flüchtlingskrise sind noch längst nicht verdaut. Die Entscheidung der Briten setzt enorme Fliehkräfte in einer krisengeschüttelten Union frei.
Zerbricht nun die EU?
Schild: Die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und die gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen sind so groß, dass ich ein Zerbrechen für unwahrscheinlich halte. Ein freiwilliges Ausscheiden weiterer Staaten ist jedoch keinesfalls ausgeschlossen.
Das heißt, die Euro-Skeptiker werden Auftrieb erhalten?
Schild: Die Europaskeptiker in allen Mitgliedsländern feiern dieses Abstimmungsergebnis als Sieg. Die Niederlande könnten in absehbarer Zeit ein Austrittsreferendum erleben, da die Hürden dort für eine rechtlich unverbindliche Volksabstimmung niedrig sind. Die Euro-Skeptiker, allen voran Geert Wilders Partij voor de Vrijheid, werden sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Auch in Tschechien, Polen und Ungarn dürften die EU-Kritiker lauter werden, in Frankreich wird der Ruf Marine Le Pens nach einem Austrittsreferendum noch lauter werden. Ob es eine Kettenreaktion geben wird, hängt auch vom Ausmaß der wirtschaftlichen Verwerfungen ab, die der Brexit auslöst.
Welche Folgen hat der Brexit denn für Großbritannien? Zerbricht das Land nun?
Schild: Ein Auseinanderbrechen ist denkbar. Die Schotten - auch die Nordiren - haben mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt und könnten ein neuerliches Unabhängigkeitsreferendum anstreben. Das wäre vielleicht das Ende der seit 1707 bestehenden Union mit England. Auch könnte der Nordirlandkonflikt erneut an Bedeutung gewinnen, sind die Nordiren nach dem Austritt von Rest-Irland durch eine EU-Außengrenze und eventuell durch Zollmauern getrennt.
Wird Großbritannien denn tatsächlich aus der EU austreten?
Schild: Ja, über die Entscheidung des britischen Souveräns wird sich keine Regierung hinwegsetzen können. Im Kern geht es in den nächsten Jahren darum, wie eng ein ausgetretenes Großbritannien sein vertragliches Verhältnis zur EU gestalten, und wie eng es an den Binnenmarkt angebunden bleiben kann. Die EU ist in einem Dilemma. Einerseits wollen viele die Bedingungen für Großbritannien unattraktiv gestalten, um Nachahm-Effekte zu vermeiden. Andererseits haben beide Seiten ein wirtschaftliches Interesse an enger Anbindung an den Binnenmarkt. wie

Joachim Schild (53) ist seit 2003 Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Uni Trier. Er hat Politikwissenschaft, Volkswirtschaft, Soziologie und Romanistik studiert.

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