1000 Vergewaltigungen im Jahr: Verbrechen passieren oft in den eigenen vier Wänden

Trier/Wittlich · Jedes Jahr geschehen schätzungsweise mehr als 1000 Vergewaltigungen in der Region Trier. Die meisten passieren nicht auf der Straße oder in Parks - sondrn in den eigenen vier Wänden. Meist wird über die Tat geschwiegen. In Wittlich finden Opfer Hilfe und Beratung.

Ein 16-jähriges Mädchen macht sich abends nach einer Feier auf den Weg nach Hause. Auf der Straße spricht sie ein fremder Mann an. Er zerrt das Mädchen hinter eine Hecke und vergewaltigt sie.

Diese unvorstellbar schreckliche Tat ist am Rosenmontag in Trier-Nord passiert. Die Eltern der 16-Jährigen informieren sofort die Polizei. Die fasst den Täter, einen jungen Mann, noch in derselben Nacht, nachdem er eine zweite Frau überfallen und verletzt hat.Partner als Täter


Es sind Fälle wie diese, die an die Öffentlichkeit dringen und Aufmerksamkeit erregen. Und es sind solche Fälle, die ein Bild im Kopf erzeugen, wie es zu einer Vergewaltigung kommt.

Doch solche Taten sind die Ausnahme. Denn die meisten Vergewaltigungen passieren in den eigenen vier Wänden, Täter ist oft der eigene Partner. Und Vergewaltigungen sind keine Randerscheinung: Jede siebte Frau wird nach einer Dunkelfeldstudie des Bundesfrauenministeriums im Laufe ihres Lebens Opfer einer Vergewaltigung oder schwerer sexueller Nötigung (siehe Hintergrund).

"Es ist nichts mehr wie vorher", beschreibt Ingrid Gödde vom Frauennotruf Trier die Situation der Opfer. "Es herrscht ein Gefühl absoluter Ohnmacht." Gödde berät seit zwölf Jahren Frauen in der Region, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Nur die wenigsten könnten nach diesem einschneidenden Erlebnis darüber sprechen. "Sie packen die Tat weg und schließen sie ein", erklärt Gödde. "Die meisten Frauen kommen erst nach langer Zeit zu uns - nach zwei, fünf oder zehn Jahren." Und zur Polizei gehen die allerwenigsten.

In der kürzlich vorgelegten Kriminalitätsstatistik für Rheinland-Pfalz wurden 2013 im gesamten Land 356 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung gezählt. Das Polizeipräsidium Trier hat im vergangenen Jahr 54 Fälle erfasst, davon drei Versuche.

Nach den Ergebnissen der Dunkelfeldstudie wenden sich aber nur fünf Prozent aller Opfer tatsächlich an die Polizei und erstatten Anzeige. Und den Anzeigen folgt nur in etwa 13 Prozent der Fälle auch eine Verurteilung des Täters. Legt man die Studie zugrunde, werden in der Region also jedes Jahr über 1000 Frauen vergewaltigt. Und nur sieben Täter werden dafür zur Rechenschaft gezogen.

Scham, Angst und Selbstvorwürfe sind Gründe, warum Frauen sich davor scheuen, den Täter anzuzeigen und das Verbrechen öffentlich zu machen. "In dem Moment, in dem ich darüber spreche, wird es Realität", erklärt Gödde. Dabei gehe es bei einer Vergewaltigung nicht um Sex. "Es werden Gewaltfantasien ausgelebt. Die Befriedigung besteht in der Dominanz."

Eine besondere Belastung besteht darin, dass der Täter meist aus dem näheren Umfeld kommt, es ist der Partner oder Ex-Partner, der Bekannte, Verwandte oder Nachbar.Dramatische Folgen


Zeigt eine Frau ihren Ehemann wegen Vergewaltigung an, können die Folgen für die Familie und den Alltag dramatisch sein. Doch handelt eine Frau gar nicht, hat sie kaum eine Chance, die Tat später nachzuweisen. Eine Anlaufstelle finden Opfer aus der Region seit kurzem in Wittlich. Im Verbundkrankenhaus Bernkastel-Wittlich ist ein Hilfsprojekt gestartet, bei dem Spuren nach einer Vergewaltigung gesichert und aufbewahrt werden. Das Entscheidende: "Frauen können sich vertraulich an uns wenden. Wir haben Schweigepflicht", sagt Dr. Peter Georg Locher, Leiter der Gynäkologie der Klinik.
Denn Vergewaltigung ist ein sogenanntes Offizialdelikt: Wird ein Fall der Polizei bekannt, müssen die Beamten den Fall anzeigen, und die Staatsanwaltschaft muss ermitteln. Der Vorgang kann nicht rückgängig gemacht werden.
In Wittlich untersucht eine Ärztin die Frauen auf Verletzungen und dokumentiert sie. DNA-Spuren von Blut oder Haaren an Kleidungsstücken und dem Körper werden konserviert. Dabei drängt die Zeit: Spermien können maximal 72 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr festgestellt werden, am besten aber in den ersten sechs Stunden nach der Tat.Ausgewertete Spuren


Das Material geht dann an die forensische Ambulanz am Institut für Rechtsmedizin in Mainz, wo die Spuren ausgewertet und fünf Jahre lang aufbewahrt werden. Die Frauen haben so die Möglichkeit, sich ohne Zeitdruck mit der Situation auseinanderzusetzen und die möglichen Folgen einer Anzeige abzuwägen.

Die Opfer werden auch psychologisch betreut. Das Projekt in Wittlich - unterstützt von der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises Bernkastel-Wittlich und des Weißen Rings - ist einzigartig in der Region. In ganz Rheinland-Pfalz gab es bisher nur das Angebot des Instituts in Mainz. Die nächsten Anlaufstellen liegen in Bonn und Köln. "Wir brauchen das Vor-Ort-Angebot", sagt Locher. Und: "Wir hoffen auf Nachahmer." Die Leistung soll langfristig auch Opfern anderer Gewalttaten offenstehen - auch Männern.

Ingrid Gödde vom Frauennotruf Trier sieht die Anlaufstelle in Wittlich als ersten Schritt: "Das ist ein Signal an die Frauen: Sie haben Zeit, sich zu entscheiden." Betroffene sollen wissen, dass sie nicht alleine dastehen. "Ich hoffe, dass weitere Kliniken folgen werden."Extra

Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung werden in § 177 des Strafgesetzbuches definiert. Demnach nötigt der Täter eine andere Person dazu, sexuelle Handlungen an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen. Der Täter wendet dabei Gewalt an, droht oder nutzt eine schutzlose Lage des Opfers aus. Die Freiheitsstrafe beträgt bei einer Verurteilung mindestens ein Jahr. Vergewaltigung ist ein besonders schwerer Fall der sexuellen Nötigung und ist in der Regel mit dem Eindringen in den Körper verbunden. Die Freiheitsstrafe liegt dann nicht unter zwei Jahren. Gleiches gilt, wenn die Tat von mehreren zusammen begangen wird. Die Freiheitsstrafe erhöht sich auf mindestens fünf Jahre, wenn eine Waffe verwendet und das Opfer körperlich schwer misshandelt wird. mafExtra

So können Frauen versuchen, sich zu schützen: Der Weiße Ring empfiehlt folgende Maßnahmen, wenn Frauen in eine gefährliche Situation geraten: Sagen Sie laut und deutlich "Nein!" oder "Hören Sie sofort auf!", wenn Sie belästigt werden. Blicken Sie dem Angreifer fest in die Augen, nehmen Sie die Schultern zurück, machen Sie sich groß und bauen Spannung im Körper auf. Schreien Sie sofort laut. Wehren Sie sich energisch und gezielt. Treten Sie mit aller Kraft zwischen die Beine, auf die Zehen oder in den Magen. Schlagen Sie mit der Handkante gegen den Hals, auf die Augen oder die Nase. Nutzen Sie Gegenstände zur Verteidigung. Besuchen Sie einen Selbstverteidigungs- oder Selbstbehauptungskurs. Je selbstbewusster Sie auftreten, desto größer sind die Chancen, einen Angreifer abzuschrecken. Nutzen Sie keine Schusswaffen oder Messer zur Verteidigung. Der Angreifer könnte diese gegen Sie einsetzen. mafExtra

Die Anlaufstelle in Wittlich befindet sich im St.-Elisabeth-Krankenhaus, Koblenzer Straße 91, Telefon: 06571/150. Der Frauennotruf Trier hat seine Geschäftsstelle in der Deutschherrenstraße 38 in Trier, Telefon: 0651/49777 oder 0651/2006588 (Beratung). Gehen Sie möglichst schnell zu einer ärztlichen Untersuchung, am besten innerhalb von 24 Stunden. Waschen Sie sich nicht vor der Untersuchung, auch wenn es schwer fällt. Heben Sie alles auf, was als Beweismittel dienen könnte, mit dem der Täter vielleicht in Berührung gekommen ist (Kleidung, Unterwäsche, Tampons, Slipeinlagen). Geben Sie keine Kleidung in die Wäsche und reinigen und verändern Sie nicht den Tatort; fotografieren Sie ihn. Versuchen Sie, den Tathergang zu rekonstruieren und Ihre Erinnerung auf einem Tonträger (zum Beispiel dem Handy) aufzunehmen oder aufzuschreiben. maf

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