Auch in Trier: Bessere Pflege, längere Wartezeit (Video)

Trier · Nach der Reform steigt die Zahl der Neuanträge sprunghaft. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen setzt die Bearbeitungsfrist aus. Den Menschen im Land geht aber nichts verloren.

 Spiele wie diese lockern die Stimmung zu Beginn der Treffen im Café Zeitreise in Trier-Mariahof.

Spiele wie diese lockern die Stimmung zu Beginn der Treffen im Café Zeitreise in Trier-Mariahof.

Foto: Rainer Neubert

Die Reform der Pflegeversicherung zeigt Wirkung: Viele Menschen, die bislang keinen Anspruch hatten, bekommen nun Pflegeleistungen. Nach Angaben des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) könnten bundesweit im Jahr 2017 rund 200?000 Menschen mehr davon profitieren, dass seit Jahresbeginn die Pflegebedürftigkeit nicht mehr ausschließlich nach Zeitaufwand begutachtet wird. Wichtigster Aspekt ist nun, wie selbstständig ein Mensch ist.
"Insbesondere Versicherte mit einer Demenzerkrankung oder mit einem hohen krankheitsbedingten Unterstützungsbedarf profitieren von dem neuen Verfahren", sagt Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Krankenkassen-Spitzenverbandes (MDS).

Im ersten Quartal 2017 ist demnach die Zahl der Aufträge für den MDK in Deutschland um 31 Prozent gestiegen. In Rheinland-Pfalz waren es im Vergleich zum Vorjahr 23 Prozent mehr. Fast 130 000 Menschen erhielten bundesweit erstmals Pflegeleistungen nach den neuen Kriterien. Weil die Begutachtungen durch den MDK komplexer geworden sind, müssen die Betroffenen derzeit deutlich länger auf einen Bescheid warten. Die bislang gültige 25-Tages-Frist ist auf Bundes- und Landesebene ausgesetzt worden, mit Ausnahme besonders dringender Fälle, in denen weiterhin innerhalb einer Woche entschieden werden muss.

Die Verzögerungen gibt es, obwohl sich der MDK nach eigenen Angaben personell für die erwartete Zunahme der Anträge verstärkt hat.

Der MDK Rheinland-Pfalz hat nach Angaben von Wolfram Rohleder, stellvertretender Geschäftsführer, im ersten Quartal 2017 insgesamt 23 169 Gutachten zu Anträgen auf Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz erstellt.
"In den ersten Monaten mussten noch Anträge aus dem vergangenen Jahr abgearbeitet werden beziehungweise ging eine Vielzahl dieser Anträge auch erst in den ersten Monaten 2017 ein. Diese Anträge müssen noch nach der alten Systematik begutachtet werden."

Entscheidend sei hierbei das Datum der Antragsstellung bei der Pflegekasse. Liege dieses vor dem 1. Januar 2017 müsse die "alte" Systematik mit Pflegestufen zur Anwendung kommen. Auch bei der Begutachtung nach der alten Systematik mit der Feststellung von Pflegestufen erfolge für die Leistungen der Pflegeversicherung nach der bundesweit gültigen Überleitungsregelung ab 1/2017 eine direkte Umwandlung in Pflegegrade.

Insgesamt seien im Land im ersten Quartal 7569 Gutachten nach der neuen Systematik erstellt. 15600 Gutachten habe wegen des Antragsdatums aus dem vergangenen Jahr noch die alte Systematik zugrunde gelegen.

Der Pflegebevollmächtigte des Bundes, Karl-Josef Laumann (CDU), kritisiert. "Einige MDKen müssen hier offenbar mehr Tempo machen und sich auch mehr anstrengen", sagt er der Deutschen Presse-Agentur. Einen finanziellen Schaden erleiden die Pflegebedürftigen durch die Verzögerungen bei der Begutachtung allerdings nicht. Es gilt das Datum der Antragstellung. Statt drei Pflegestufen gibt es nun fünf Pflegegrade. Diese berücksichtigen auch Beeinträchtigungen von Wahrnehmungen und Erinnerung, wie sie für Demenzerkrankungen typisch sind. Auch Probleme bei der Alltagsbewältigung, für Pflegende schwierige Verhaltensweisen oder Mobilitätsprobleme werden besser berücksichtigt.

Für die kostenlose und neutrale Beratung gibt es in Rheinland-Pfalz 135 Pflegestützpunkte, deren Mitarbeiter die rechtlichen und regionalen Rahmenbedingungen genau kennen. "Ohne Vorberatung wissen die Menschen nicht, worum es bei der Begutachtung geht", sagt Heike Amidon vom Pflegestützpunkt Trier. "Jeder hat Anspruch darauf."
Vielen Betroffenen und Angehörigen sei die ganze Palette der Hilfe durch die Pflegeversicherung nicht bekannt. Besonders wichtig ist Amidon der Hinweis auf die monatlich bis zu 125 Euro für Alltagshilfen, die auch Menschen mit dem niedrigsten Pflegegrad seit Januar erhalten. "Damit können zum Beispiel Kosten für den Besuch eines betreuten Angebots erstattet werden."

Erfolgreich ist die Reform der Pflegeversicherung aber auch in anderer Hinsicht: Lag die Anerkennungsquote bei dem abgeschafften Begutachtungsverfahren noch bei 75 Prozent, so ist seit Jahresbeginn 84 Prozent der Antragsteller ein Pflegegrad zuerkannt worden.
Mehr zum Thema

Hintergrund: Wenn nur 100 Euro als Taschengeld bleiben
Im betreuten Café auf Zeitreise
Interview: Jeder Mensch in Rheinland-Pfalz hat Anspruch auf eine kostenlose Pflegeberatung Kein Vollkasko-Angebot

Meinung
Von Rainer Neubert

Die alternde Gesellschaft in Deutschland erfordert Veränderungen. Themen wie Gesundheit und Pflege gewinnen mit steigender Lebenserwartung an Bedeutung. Immer mehr Menschen werden 80 Jahre und älter. Wer glaubt, nur wenige von ihnen könnten auch in den späten Lebensjahren ganz ohne Hilfe auskommen, wird vermutlich leider falsch liegen.

So kommt die seit dem Beginn des Jahres wirkende Pflegereform den Notwendigkeiten der sich verändernden Gesellschaft in wichtigen Punkten nach: Es geht nicht mehr nur darum, darauf zu schauen, ob sich ein Mensch selbst anziehen, essen oder die Haare kämmen kann - und wie viel Zeit eine entsprechende Hilfestellung braucht. In den Vordergrund rückt der Blick darauf, wie viel Unterstützung ein Mensch braucht, um selbstständig in den eigenen vier Wänden leben zu können.

Wie überfällig diese Reform war, zeigt die Antragsflut, die sofort eingesetzt hat. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen kann ihn derzeit nur mit Mühe und Zeitverzögerungen bewältigen, zumal auch die MDK-Mitarbeiter für die deutlich umfassenderen Begutachtungen komplett umlernen mussten.

Komplex und individuell verschieden sind die neu strukturierten Leistungen der Pflegeversicherung. Ohne kompetente Beratung sind viele Pflegebedürftige und auch deren Angehörige damit überfordert. Genau diese Beratung bieten die Experten der Pflegestützpunkte. 135 davon gibt es im Land. Sozialarbeiter und Pflegeexperten arbeiten dabei jeweils Hand in Hand. Sie helfen für die Versicherten kostenfrei und unabhängig von Wohlfahrtsverbänden oder privaten Pflegedienstanbietern.

Große Verdienste für diese nun auch bundesweite Form der Pflegeberatung hat das Land Rheinland-Pfalz, allen voran Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Denn in ihrer Zeit als Gesundheitsministerin hatte sie bereits die sogenannten Beratungs- und Koordinierungsstellen (Beko) eingeführt. Für die Einführung der Pflegestützpunkte waren sie Vorläufer und Vorbild.

Bei allem Lob für die gute Beratung und die sinnvolle Reform der Pflegeversicherung besteht allerdings kein Anlass zu Jubel. Sie ist keine Vollkaskoversicherung. Wer ins Seniorenheim zieht oder ziehen muss, wird nach wie vor in der Regel sein gesamtes Vermögen dafür aufbrauchen. So lange wie möglich alles für die eigene Selbstständigkeit zu tun, ist deshalb richtig und wichtig - auch wenn es manchmal mühsam ist.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort