Den Alltag meistern in der Alten-WG
MAINZ. Die Deutschen werden älter und die Zahl der Senioren wächst: Ob mit oder ohne Familienbindungen, die Nachfrage nach Pflege und Betreuung steigt stetig. "Wir müssen neue Wege in der Pflege gehen", sind sich die Experten einig. Modellprojekte mit Wohngruppen und Pflegebudgets laufen an.
Möglichst eigenständig möchten Gerhard Helm, Maria Butt und Erika Schul (Namen geändert) leben, trotz ihrer psychischen Einschränkungen - und das in ihrem vertrauten Stadtteil. Seit vier Jahren gibt es in Mainz diese landesweit einmalige betreute Wohngemeinschaft (WG) für ältere Menschen. Karim Elkhawaga, Gründer des Ambulanten Dienstes Gesundheitspflege und einer der Initiatoren der WG weiß, dass viele Menschen in Heimen leben, die nicht pflegebedürftig sind, sondern nur betreut werden müssen. Von acht bis 20 Uhr ist einer seiner Mitarbeiter in der WG und hilft, den Alltag zu meistern. In einer eigenen Wohnung im eigenen Viertel, das schafft Vertrautheit und Sicherheit, weiß Diplom-Pflegewirt Elkhawaga. Acht solcher Projekte will er demnächst mit dem Arbeiter Samariter Bund anpacken. Über "Probewohnen" müssen die Senioren testen, ob sie WG-tauglich sind. Eins liegt dem gebürtigen Marokkaner und seinen 40 Mitarbeitern, von denen jeder zweite einen Einwanderer-Hintergrund hat, besonders am Herzen: kultursensible Pflege. Jeder zehnte seiner insgesamt 140 Klienten stammt aus dem Ausland.Ramadan beachten und Fastnacht feiern
Sitten und Verhalten zu verstehen, ist für Elkhawaga nicht unbedingt mit mehr Zeitaufwand verbunden, jedoch mit mehr Einsatz: Ramadan-Regeln bei Moslems beachten oder Wasch-Traditionen bei Russen. Wenn die echte Mainzerin zur Fastnacht will, so fällt auch das unter kultursensible Pflege. "Auf den Menschen eingehen" ist auch oberstes Motto beim Senioren-Centrum Katzenelnbogen (Rhein-Lahn-Kreis). Wohngruppen mit festen Bezugspersonen und Wohnküchen als Mittelpunkt sind ein Eckpfeiler seines Konzepts. Altersverwirrte und Demenzkranke sind je nach Grad der Betroffenheit integriert oder in einer eigenen Etage untergebracht. Den Demenzkranken so weit wie möglich in eine feste Tagesstruktur einbinden, aber ihn auch akzeptieren, wie er ist, so die Vorgaben von Heimleiterin Ellen Meuer. In Gemeinschaftsräumen wird ein vertrautes Milieu geschaffen, das Personal umfassend geschult. Den 99 Heimbewohnern stehen mehr als 40 Vollzeitstellen in Pflege, Betreuung und Hausverwaltung gegenüber. Sie sorgen für individuelle Begleitung bis hin zur Entspannungspflege, die mehr ist als reine Körperhygiene. In den beiden vergangenen Jahren hat Heim-Träger Bernd Meurer mit seinem Seniorencentrum rote Zahlen eingefahren. Doch der Präsident des Bundesverbands Privater Alten- und Pflegeheime (bpa) hofft, dass sich Qualitätsdenken durchsetzt und langfristig trägt. Doch dazu sind viele Investitionen notwendig. "Ohne Beratung von außen sind moderne Pflegekonzepte nicht zu leisten", sagt Meurer. Wer mit Wohngruppen und Gemeinschaftsküchen arbeite, "bricht jeden Tag ein Gesetz". Umdenken und Entbürokratisieren, fordert der bpa-Präsident. Bundesweit geschätzte eine Million Demenzkranke, von denen 75 Prozent zu Hause betreut werden, erfordern nicht nur aus Meurers Sicht neue Wege in der Pflege. Im Herbst starten nach Angaben der Mainzer Sozialministerin Malu Dreyer (SPD) neue Modellprojekte unter anderem im Landkreis Neuwied, die persönliche Budgets in der Altenpflege erproben. Dabei können Pflegebedürftige oder Demenzkranke mit Unterstützung der an die Sozialstationen angebundenen Beratungs- und Koordinierungstellen Leistungen von ambulanten Diensten oder privaten Helfern einkaufen. In jedem Fall wird mit Betroffenen und Angehörigen die individuelle Hilfe bestimmt. Dazu zählt nach Dreyers Worten nicht zuletzt das Teilhaben am sozialen Leben. Nebeneffekt der individuellen Budgets, die ein entscheidender Baustein in der Pflegelandschaft werden können: Die Dienste werden gezwungen, mit ihren Angeboten auf die Nachfrage zu reagieren, und bürokratischer Aufwand könnte abgebaut werden. Noch in diesem Jahr sollen im Land auch die ersten von vorläufig acht Projekten mit Wohngruppen in Alten- und Pflegeheimen anlaufen.Hoffnung auf Nachahmer-Effekt
In "Großfamilien" das Alltagsleben organisieren, so die Vorstellung von Dr. Brigitte Seitz vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Dabei sollen sich Betreuungskonzepte und Abläufe an die Bewohner anpassen, die je nach Fähigkeiten eingebunden sind. Über Wohnbereiche wird versucht, ein Milieu für die Gruppe zu schaffen und damit den Boden für Zufriedenheit zu bereiten. Gute Beispiele finden Nachahmer, hofft Dreyer. Und betreute Wohngemeinschaften außerhalb der Heime müssten sich nach ihrem Wunsch landesweit ausbreiten, damit alt werden in Deutschland mehr positive Perspektiven hat.