Die Angst vor neuen Schul-Debatten

MAINZ. Fast beschwörend warnten einige Bildungsexperten und Politiker nach der Pisa-Studie vor einer erneuten Debatte um die angeblich richtige Schulstruktur. Doch der grundlegende Zwist um gegliedertes oder integriertes Schulsystem ist nicht aus der Welt.

Merkwürdigkeiten brachte die Pisa-Studie zusammen mit dem niederschmetternden Abschneiden des deutschen Bildungswesens zutage: Während im internationalen Vergleich die Schüler aus Ländern mit integrierenden Schulsystemen wie Finnland, Korea, Kanada oder Japan die Spitzengruppe dominierten, lagen auf nationaler Ebene mit Bayern und Baden-Württemberg zwei Verfechter des gegliederten Schulsystems mit Abstand an der Spitze. Studie bringt Beweise für Freund und Feind

Ein "eindeutiger Beweis für die Überlegenheit des gegliederten Schulsystems gegenüber integrierten (Gesamt-) Schulsystemen", folgerte umgehend der Philologenverband. Für ideologisch begründete Reformen gebe es keinen Raum mehr, stellen die Gymnasiallehrer fest. Um Talente besser zu fördern, sollte eine frühe Auslese vermieden und möglichst langes gemeinsames Lernen in integrierenden Systemen ermöglicht werden, hält die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) dagegen. In keinem anderen Land werden Zehnjährige schon so konsequent auf die weiterführenden Schulen verteilt wie in Deutschland. Auch die Unternehmensberatung Mc Kinsey folgert, dass eine längere gemeinsame Schulzeit mit Intensiv- und Förderkursen notwendig sei. Allein aus Angst vor Schuldebatten werde das Thema aber ausgespart. Die Mainzer Bildungsministerin Doris Ahnen (SPD) will sich auf grundlegende Auseinandersetzungen um die Gliederung des Schulsystems allerdings nicht einlassen. Sie verweist darauf, dass in Rheinland-Pfalz im dreigliedrigen System neben Hauptschule, Realschule und Gymnasium auch integrierende Elemente wie Regionale Schulen und Gesamtschulen zugelassen sind. Die Struktur allein sagt nach ihrer Auffassung noch nichts über die Qualität aus. Nicht nur für den Verband Bildung und Erziehung (VBE) wird durch die Erkenntnisse aus Pisa der Vorwurf bestätigt, das deutsche Schulsystem sei sozial hoch selektiv wie kein anderes und führe zu Bildungsbenachteiligung sozialer Gruppen. Wesentlicher Grund dafür ist laut VBE die klassische Schulstruktur. Das Land müsse endlich einen zweigliedrigen Aufbau forcieren, deren eine Säule in eine Berufsausbildung und die zweite in ein Studium mündet, lautet die Forderung. Neben dem Gymnasium will der VBE etwa das Modell Regionale Schule weiterentwickeln und nach dem saarländischen Vorbild der Erweiterten Realschule die klassische Hauptschule unter diesem Dach aufgehen lassen. Im Saar-Modell trennen sich die Bildungsgänge erst nach dem sechsten Schuljahr, wobei auch ein Wechseln bis Ende der Klassenstufe sieben möglich ist. In keinem anderen Bundesland gebe es eine so zergliederte Sekundarstufe Eins wie in Rheinland-Pfalz, bemängelt auch GEW-Landesvorsitzender Tilman Boehlkau und verweist auf die Angebotspalette von Haupt- und Realschule, Regionaler Schule, Dualer Oberschule, Gesamtschule und Gymnasium bis zu Fachschulen im Berufsschulzweig. Unter sinkender Nachfrage leidet vor allem die Hauptschule. Besuchten 1970 noch zwei Drittel aller Schüler diese Standardschule, sind es heute noch gerade mal rund 25 Prozent. Es gebe viele Lippenbekenntnisse zur Hauptschule, aber keine wirkungsvolle Unterstützung, beklagt Horst Becker, Sprecher der Initiative Hauptschule in Rheinland-Pfalz. Die Einstellung der Eltern laufe inzwischen auf "mindestens mittlere Reife" als Abschluss für die Sprösslinge hinaus. Dabei bietet nach seiner Erfahrung die Hauptschule mit ihren erweiterten Angeboten jedem dritten Schüler eine optimale Förderung. Doch die Entwicklung gehe offenbar Richtung zweigliedriges System, stellt der Hauptschullehrer leicht resigniert fest. Dabei dürfte die demographische Perspektive in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle spielen. Die Schülerzahlen werden massiv zurück gehen. In ländlichen Regionen wie dem Raum Trier läuft bereits jede zweite Hauptschule mit Ausnahmegenehmigung als "kleine Schule", weil nur weniger Klassen gebildet werden können als gesetzlich vorgegeben. Es gebe durchaus gute Hauptschulen, stellt der Bildungsforscher Ernst Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund fest. Doch gleichwohl fragt er, ob das Ende dieser Schulart ein großes Unglück wäre? Nicht nur die Schülernachfrage schwindet merklich, sondern auch ihr Lehrernachwuchs. Doch vor neuen Debatten um eine Reform des Schulsystems schreckten die Politiker zurück, stellt auch Rösner fest. Er sieht daher wenig Chancen, flächendeckend Haupt- und Realschulen unter einem Dach zusammenzubringen.

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