Die Regierung zerfällt, die Bürger flüchten in Scharen

Der Mauerfall am 9. November 1989 war ein historischer Glücksfall. Unser Hauptstadt-Korrespondent Werner Kolhoff, damals Sprecher des (West-)Berliner Senats und Vertrauter des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper (SPD), schildert in dieser TV-Serie bis zum 12. November täglich seine persönlichen Erlebnisse rund um den Tag des Mauerfalls.

2. November 1989: In Ost-Berlin hagelt es Rücktritte. Der Vorsitzende des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, Harry Tisch, stellt sein Amt zur Verfügung, ebenso der Chef der Ost-CDU, Gerald Götting, und der der NDPD, Heinrich Homann. Die Nachrichtenagentur ADN meldet im DDR-Jargon auch, dass "der Minister für Volksbildung", Margot Honecker, "aus persönlichen Gründen" um Entlassung gebeten hat. So ausführlich war ein Bericht von einer Regierungssitzung noch nie, wie ich ihn heute bei der DDR-Nachrichtenagentur lese, die wir im Rathaus Schöneberg ständig auswerten. Von einer "kritischen politisch-ökonomischen Lage" ist die Rede, von zahlreichen "Aussprachen", die die Regierung mit Arbeitskollektiven führe, vom Ausbau des "sozialistischen Rechtswesens". Über das geplante neue Reisegesetz heißt es nur, dass es behandelt worden sei und "in den nächsten Tagen öffentlich zur Diskussion" gestellt werde. Das klingt so, als bleibe es beim Inkrafttreten Anfang Dezember, wie uns angekündigt wurde.

Die alte DDR-Regierung zerfällt, und mit ihr das Land. 161 000 Ostdeutsche sind in diesem Jahr schon in die Bundesrepublik übergesiedelt. 100 000 mit offizieller Ausreisegenehmigung. Die anderen illegal über die ungarische Grenze oder die deutsche Botschaft in Prag. Es sind Zahlen wie kurz vor dem Mauerbau. Und gerade heute erreichen uns Bilder, dass die Prager Botschaft schon wieder brechend voll ist - über 5000 Frauen, Männer und Kinder warten in dem völlig zermatschten Garten, dass auch sie in den Westen dürfen, wie die anderen vor ihnen. Das ist keine Reise-, sondern eine Fluchtwelle. Unsere Arbeitsgruppe trifft sich am Mittwoch, 1. November 1989, zum ersten Mal. 21 Beamte aus allen Verwaltungen und den Bezirken kommen nachmittags um halb fünf im Rathaus Schöneberg zusammen. Ich ergreife zu Beginn das Wort und sage, dass Berlin für alle DDR-Bürger das bevorzugte Reiseziel sein wird, wenn die Öffnung kommt. Dass wir mit Hunderttausenden von Besuchern rechnen und wegen der Sensibilitäten in der Stadt alles sehr sorgfältig vorbereiten müssen. In vielen Abteilungen ist schon vorgearbeitet worden, so dass wir jetzt nur noch den jeweils letzten Stand abfragen: Verhandlungen über neue Grenzübergänge, die Auszahlung des Begrüßungsgeldes, die Vorbereitungen der Krankenhäuser und der Sozialdienste auf Hilfebedürftige und Flüchtlinge, der Nahverkehr, die Information der Einreisenden. Alle Verwaltungen bekommen ihre Arbeitsaufträge. Zweieinhalb Stunden dauert die Sitzung. Wir wollen bis zum 21. November fertig werden. Am 8. November wollen wir uns wieder treffen und dann schon viel weiter sein. Am Ende der Sitzung teilt die Senatsfinanzverwaltung uns mit, dass sie für alles die notwendigen Mittel bereitstelle, "sofern die Maßnahmen einem pragmatischen Ansatz entsprechen". Eine geplante Plakataktion, mit der wir die DDR-Bürger in der Stadt begrüßen wollten, wird aus Kostengründen wieder gestrichen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort