Diskussion um freie Schulwahl: Der Lehrer rät, die Eltern entscheiden

Trier · Muss es wieder verbindliche Empfehlungen für den Besuch weiterführender Schulen geben? Die Meinungen gehen auseinander.

Wohin soll mein Kind nach der Grundschule gehen? Auf die Realschule plus, auf die Gesamtschule oder aufs Gymnasium. Jedes Jahr spätestens zu Beginn des vierten Schuljahres stellen sich die Eltern von Grundschülern diese Frage. Und die Mehrzahl entscheidet sich fürs Gymnasium. Über 40 Prozent waren es im vergangenen Jahr. Nicht zuletzt auch deswegen, weil einige Eltern glauben, dass ihr Kind Abitur machen muss, um gute Chancen im Job zu haben. Und sie glauben noch immer, dass Abitur nur auf dem Gymnasium möglich ist. Daher melden sie ihr Kind dort an, auch wenn der Grundschullehrer eine Empfehlung für eine andere weiterführende Schule gibt. In Rheinland-Pfalz sind die Grundschulempfehlungen seit Jahren nicht mehr verbindlich. Das heißt, die Eltern können sich daran halten, müssen aber nicht. Und die meisten Gymnasien weisen keine Schüler ab, auch wenn sie keine Empfehlung dafür haben.

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In Baden-Württemberg wurde gerade eine Diskussion über die Wiedereinführung einer verbindlichen Grundschulempfehlung geführt. Diese hat es dort bis vor fünf Jahren gegeben. Grundschulen legten fest, welche weiterführenden Schulen die Viertklässler besuchten. Die grün-rote Landesregierung hat sie abgeschafft, Grundschulen sprechen seitdem gar keine Empfehlung mehr für weiterführende Schulen aus. Die neue grün-schwarze Landesregierung hat das wieder geändert. Allerdings ist sie nicht wieder zurück zur verbindlichen Lehrerempfehlung gegangen. Ab kommendem Schuljahr erhalten Eltern von Viertklässlern wieder eine solche Empfehlung, die sie bei der Anmeldung auf die weiterführende Schule auch vorlegen müssen. Die endgültige Entscheidung liegt aber bei den Eltern. Damit hat das Nachbarland die gleiche Regelung, die es auch in Rheinland-Pfalz gibt und in den meisten anderen Bundesländern mit Ausnahme von Thüringen und Bayern.

Die "Freigabe des Elternwillens", sei ein Kernstück einer modernen Bildungspolitik, "der es auf demokratische Prinzipien und eine angemessene Beteiligung der Eltern ankommt", sagt Hjalmar Brandt, Geschäftsführer des Lehrerverbandes VBE. "Eine freie Grundschulempfehlung unterstützt die Offenheit des Schulsystems, legt die Kinder nicht frühzeitig auf Bildungsgänge fest, lässt also Entwicklungsmöglichkeiten zu und nimmt Druck beziehungsweise Erwartungsdruck von Schulen und Lehrern." Auch statistisch gesehen habe es nach Abschaffung der verbindlichen Empfehlung vor gut 25 Jahren keine massiven Veränderungen gegeben, sagt Brandt.

Das sieht Bernd Karst vom Landesverband der Realschullehrer anders. Nach der Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung hätten sich "die Schülerströme inflationär in Richtung Gymnasium verändert". Für den Philologenverband Rheinland-Pfalz bedeutet die Wiedereinführung einer verbindlichen Grundschulempfehlung "einen Schritt hin zu mehr Chancengerechtigkeit". "Denn es ist empirisch bewiesen, dass sich in weitaus höherem Maße finanziell besser gestellte Eltern über eine unverbindliche Empfehlung hinwegsetzen", sagt Jochen Ring. Sprecher des rheinland-pfälzischen Philologenverbandes.

Im Bildungsministerium und bei den Eltern findet diese Argumentation allerdings wenig Resonanz. "Die Übergangsempfehlungen der Grundschulen zum Besuch der weiterführenden Schulen sind eine zentrale Schaltstelle für die Verteilung von Bildungs- und Lebenschancen", sagt Henning Henn, Sprecher von Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD). Entscheidend sei, dass die Eltern eine gute Beratung erhalten, "so dass sie eine fundierte Entscheidung hinsichtlich der Schulwahl treffen können". Diesem Auftrag würden die Grundschulen gerecht. Henn: "Über die Grundschulzeit hinweg finden kontinuierlich Elterngespräche statt, die die Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt stellen." Es gebe einen Beratungsprozess und schließlich die Empfehlung. Die rheinland-pfälzische Grundschulordnung sehe aber vor, dass die Eltern die Schulwahl für ihr Kind träfen, sagt der Ministeriumssprecher.

Und daran soll sich nach Ansicht von Reiner Schladweiler, Vorsitzender des Regionalelternbeirats auch nichts ändern. Die Forderung nach verbindlichen Grundschulempfehlungen entspreche nicht dem Willen der meisten Eltern. Was sich ändern müsse, so Schladweiler, dass die Schulen die individuelle Förderung der Schüler "viel ernster" angegangen werden müsse. Was aber auch bedeute, dass es mehr Lehrer geben müsse.

"Wer versucht, die Grundschulempfehlung wieder bindend zu machen, legt in der Schulpolitik den beschleunigten Rückwärtsgang ein", sagt VBE-Landesgeschäftsführer Brandt. Damit würde die Durchlässigkeit des Schulsystems, dass zum Beispiel eben nicht nur Gymnasien zum Abitur führen, eingeschränkt. "Das", si Brandt, "bringt unser Schulsystem in die 50er Jahre zurückbringt und einer dynamischen, auf Vielseitigkeit und Individualität setzenden Gesellschaft völlig unangemessen ist." Auch als es noch die verbindliche Schulempfehlung gegeben habe, hätten viele Schüler nach der sechsten, aber auch in siebten und achten Klasse, vom Gymnasium gewechselt. "Es ist ja gerade das Wesen dieser Orientierungsstufe in der fünften und sechste Klasse, die es an allen weiterführenden Schulen gibt, einen zeitlichen Raum für einen Wechsel von der einen Schule in die andere möglich zu machen und damit den Interessen und Neigungen der Schülergerecht zu werden." Daher sei ein verstärkter Wechsel in diesen Klassenstufen durch das System beabsichtigt, sagt Brandt.

Zahlen der für die Schulen im Land zuständigen Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion belegen, dass die meisten Schüler nicht nach der sechsten sondern nach der siebten Klasse die Gymnasien verlassen. Allein 578 gingen im vergangenen Jahr landesweit auf Realschulen plus. Vor drei Jahren waren es sogar 753 Siebtklässer, die von Gymnasien auf diese Schulen wechselten.

DIE SCHULEMPFEHLUNG UND IHRE BEDEUTUNG
In der rheinland-pfälzischen Grundschulordnung ist geregelt, wie der Übergang zu weiterführenden Schulen ist. Darin heißt es: "Voraussetzung für die Aufnahme in die Orientierungsstufe ist der erfolgreiche Abschluss der Grundschule…Unter Berücksichtigung der Entwicklung in der Grundschule erhalten alle Schülerinnen und Schüler, die voraussichtlich das Ziel der Grundschule erreichen werden, eine Empfehlung für den weiteren Schulbesuch in der Orientierungsstufe." Entscheidend für die Empfehlung seien: "Das Lern- und Arbeitsverhalten und …die Leistungen.
Die Empfehlung wird von der Klassenkonferenz erteilt und zusammen mit dem Halbjahreszeugnis der Klassenstufe 4 den Eltern schriftlich mitgeteilt. Dabei sind alle regional vorhandenen Schularten zu berücksichtigen… Eine Empfehlung für das Gymnasium oder die Realschule kann nur ausgesprochen werden, wenn das allgemeine Lern- und Arbeitsverhalten die Empfehlung rechtfertigt und die Leistungen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht in der Regel mindestens befriedigend, in den übrigen Fächern überwiegend befriedigend sind. Ausnahmen bedürfen einer besonderen pädagogischen Begründung..." In der allgemeinen Schulordnung des Landes steht aber auch: "Die Eltern entscheiden auf der Grundlage der Empfehlung der Grundschule, welche Schulart der Schüler besuchen soll."

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