Eltern legen ihre Kinder auf den Richtertisch

COCHEM. Sie besteht seit zwölf Jahren und hat seitdem nicht nur vielen Paaren geholfen, einen schmutzigen Scheidungskrieg zu vermeiden, sie ist auch bundesweit beachtet: die Cochemer Praxis. Was macht der Erfolg dieses Modells aus? Wir sprachen darüber mit dem Initiator, dem Cochemer Richter Jürgen Rudolph.

Worin liegt der Erfolg des Cochemer Modells?Rudolph: Wir nehmen bei unseren Entscheidungen die Sichtweise der Kinder ein. Das ist in Deutschland unüblich. Meistens wird bei Scheidungsverhandlungen versucht festzustellen, wer ist der bessere Elternteil - eine Katastrophe aus Sicht der Kinder. Sie möchten beide Eltern behalten. Dadurch machen sich Kinder oft Vorwürfe, geben sich die Schuld am Scheitern der Ehe. Wie unterscheidet sich Ihre Vorgehensweise von der anderer Familienrichter? Rudolph: Wir arbeiten mit Psychologen zusammen, die herausfinden, was mit den Kindern los ist. Meist wird sich bei Scheidungen ja immer nur auf den Konflikt der Eltern konzentriert. Die sehen aber gar nicht, was das Beste für ihre Kinder ist. Unser Modell versteht sich als Lobby der Kinder. Wie schaffen Sie es, die Kinder in diesen konfliktträchtigen Situationen miteinzubinden?Rudolph: Wir haben ein Netzwerk gebildet mit allen beteiligten Stellen: Familiengericht, Anwälte, Jugendamt, Beratungsstellen und psychologische Sachverständige. Sie arbeiten lösungsorientiert zusammen: Nach der Scheidung soll den Kindern der Kontakt zu beiden Eltern erhalten bleiben. Der Arbeitskreis ist also keine Palawerrunde. Wie funktioniert das in der Praxis? Rudolph: Meistens ist es ja so, dass die Eltern zu den Familiengerichten kommen und den Richtern ihre Kindern auf den Tisch legen. Wir sagen ihnen: Das sind eure Kinder, nicht unsere. Ihr habt die Verantwortung für sie. Damit ist aber noch nicht der Streit um das Sorgerecht beendet.Rudolph: Das Institut der elterlichen Sorge spielt für uns keine Rolle. Man kann zwar einem Elternteil das Sorgerecht entziehen, nicht aber seine Verantwortung. Die Frage des Sorgerechts ist so was typisch Deutsches, es sind Erwachsenspielereien. Kinder wollen nicht, dass Vater oder Mutter die Sorge entzogen wird. Warum gibt es dann immer noch so viele Sorgerechtsstreitigkeiten vor Gericht? Rudolph: Weil das Problem für die Kinder nicht erkannt wird, und weil außerhalb von Netzwerken wie unserem schwer durchsetzbar ist, das Sorgerecht auszuklammern. Die meisten Juristen haben nicht die nötige Ausbildung, um über dynamische Beziehungen zu entscheiden. Wir haben gelernt, über feste Sachverhalte zu richten. Was hat sich seit dem Bestehen des Cochemer Modells hier bei Ihnen geändert? Gibt es nur noch glücklich Geschiedene ohne Streit und schmutzige Wäsche? Rudolph: Unsere Praxis greift vor allem in der heißen Phase der Trennung ein, wenn um die Kinder gestritten wird, so dass die eigentliche Scheidung recht unkompliziert über die Bühne geht. Je früher das Netzwerk eingreift, desto eher erreicht man eine Lösung im Interesse der Kinder. Wenn Kinder zu lange in diesem Konflikt sind, besteht die Gefahr einer negativen, eventuell kriminellen, Karriere. Es ist aber doch sehr ungewöhnlich, dass sich Richter, Anwälte, Jugendamtsmitarbeiter und Berater an einen Tisch setzen. Gibt es da nicht mal Zoff? Rudolph: Es gibt eine große Schnittmenge zwischen allen Beteiligten: Wir wollen beiden Eltern die Kinder nach der Trennung erhalten. Alle tragen das Ihre dazu bei. Die Anwälte haben vereinbart, keine schmutzige Wäsche vor Gericht zu waschen, das Gericht terminiert die Sachen kurzfristig innerhalb von zwei Wochen, das Jugendamt nimmt an jeder mündlichen Verhandlung teil und muss vorher zu den Eltern und den Kindern gehen. Falls trotzdem keine Lösung im Sinne der Kinder zustande kommt und unsere Kompetenz am Ende ist, schicken wir die Eltern aus dem Gerichtssaal direkt zur Beratung. Die Anwälte oder Jugendamtsmitarbeiter begleiten sie dorthin. Die Beratungsstellen machen dann kurzfristige Termine. Ist Ihr Modell auch auf andere Gerichtsbezirke ausweitbar?Rudolph: Wir können die Ausbreitung der Cochemer Praxis gar nicht mehr stoppen. Baden-Württemberg will das Modell landesweit einführen, in Sachsen-Anhalt und Sachsen gibt es das schon, nachdem wir es dort vorgestellt haben. Wir haben demnächst Termine in Niedersachen und Brandenburg. Auch Nordrhein-Westfalen hat Interesse bekundet. Im Gesetz zur freiwilligen Gerichtsbarkeit wird das Kindschaftsrecht neu formuliert, bei dem alle unsere Vorschläge miteingearbeitet wurden. Die Bundestagsfraktionen von SPD, CDU und Grünen hatten bereits Kontakt zu uns, um sich über die Praxis zu informieren. f Mit Richter Jürgen Rudolph sprach TV-Redakteur Bernd Wientjes.

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