Empörte Genossen, charakterlose Gesellen

BERLIN. Es rumort in der SPD-Spitze. Die Parteilinke ist sauer auf die "Nein-Sager" bei der Gesundheitsreform. Auch die gestrige Sitzung des Parteivorstands hat daran offenbar wenig geändert.

Zur Abwechslung drehten die innerparteilichen Kritiker den Spieß einfach um: Wegen Arbeitsüberlastung müsse der Bundeskanzler mittelfristig den SPD-Vorsitz abgeben, hatte der Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels in einem Zeitungsinterview gefordert. Und prompt zeigten sich gleich mehrere Parteipromis darüber zutiefst empört ("Unsinn", "Unfug"). Der Vorstoß von Bartels ist eine weitere Facette im lautstarken Richtungsstreit der Sozialdemokraten um den richtigen Reformkurs. Bislang standen ausschließlich die Ämter jener sechs Genossen zur Diskussion, die durch ihr "Nein" zur Gesundheitsreform den Zorn vieler Parteifreunde auf sich gezogen hatten (siehe Hintergrund). Vom Bundestagsabgeordneten Karl Hermann Haack mussten sie sich dafür als "charakterlose Gesellen" beschimpfen lassen. Und gestern ging es munter weiter. Wer glaubte, die Gemüter würden sich bei der Sitzung des Parteivorstands beruhigen, sah sich jedenfalls gründlich getäuscht. Eigentlich sollte das Spitzengremium über die Leitanträge für den Bundesparteitag im November beraten. Doch dieser Punkt verkam zur Randnotiz. Statt dessen entwickelte sich die Sitzung zum Scherbengericht für alle Agenda-Skeptiker. Auch der Kanzler hatte einen Termin in Bremen sausen lassen, um im Willy-Brandt-Haus mit dabei zu sein. Teilnehmer berichteten von einem "auffallend aggressiven Ton", der erklärten Parteilinken wie Andrea Nahles und Ottmar Schreiner entgegen geschlagen sei. Zahlreiche Vorständler gaben ihnen die Schuld für das schlechte Erscheinungsbild der Sozialdemokraten. "Seid ihr verrückt geworden?", soll der ehemalige Regierungschef von Niedersachsen, Sigmar Gabriel, die Rebellen angeherrscht haben. "Bist du hier der Chefankläger?", konterte dem Vernehmen nach Schreiner. Der Chef der Jusos, Niels Annen, der seit Wochen die soziale Schieflage der Kanzler-Reformen beklagt, bekam von Schröder persönlich sein Fett weg: "Das interessiert doch keinen, was du hier erzählst", grollte der Regierungschef. Ansonsten wiederholte er noch einmal seine Forderungen nach innerparteilicher Geschlossenheit und Disziplin.Reinigendes Gewitter? Im Gegenteil

Ein reinigendes Gewitter ist aus den Wortgefechten nicht geworden. Im Gegenteil. Die Parteilinken zeigen sich weiter unbeugsam. Andrea Nahles machte aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl: "Wir haben keine Annäherung der Positionen erreicht", konstatierte sie nach der Sitzung. Die einen wollten die Agenda 2010 "eins zu eins" umsetzen, weil sonst die Handlungsfähigkeit der Partei auf dem Spiel stünde. Dagegen warnten die anderen vor einer "Erosion" der Parteibasis. Seit Jahresbeginn hat die SPD unter dem Strich immerhin 30 000 Mitglieder eingebüßt. "Warum wir so viele verloren haben, spielte in der ganzen Diskussion gar keine Rolle", klagte Nahles. Besonders wurmte die einstige Bundestagsabgeordnete, dass der Kanzler auch bei der anstehenden Verabschiedung der Arbeitsmarktreformen (Hartz III und IV) keinerlei Kompromissbereitschaft erkennen ließ. "Da war nichts, Null, minus Null". Zumindest an einer Stelle hatten sich alle Sitzungsteilnehmer hinter Gerhard Schröder versammelt. Der Beitrag von Hans-Peter Bartels zur Entthronung des Parteivorsitzenden sei "nicht hilfreich" gewesen, stellte auch Nahles fest. Nach Darstellung von Sigmar Gabriel brach darüber sogar Heiterkeit aus: "Die Meldung wurde unter dem hinreichenden Gelächter der Anwesenden vorgelesen."

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