Großes Glück nach langer, schrecklicher Angst

LUXEMBURG. Bis zu seiner Pensionierung im Frühjahr 2004 war Georges Calteux oberster Denkmalschützer in Luxemburg. An Besatzung und Befreiung erinnert er sich genau. Und mahnt zur Versöhnung.

Kinder haben ihren eigenen Zugang zur Realität. Sie erspüren Stimmungen, erschließen aus wenigen Gesten und Worten, was geschieht und, noch wichtiger: was die Menschen dabei empfinden. Georges Calteux war bei der Befreiung seines luxemburgischen Heimatdorfs durch die Amerikaner im Herbst 1944 acht Jahre alt. Trotzdem hat er nicht nur vieles mitgefühlt und miterlebt, als die Befreier kamen, er kann sich auch an die Besatzungszeit erinnern. Wie in einem Mosaik fügen sich Gedankensplitter zu einem persönlichen Bild, das von der Geschichte mehr spiegelt als manches Archivmaterial. Angst, nur Angst habe man gehabt - vor Verhaftung, Deportation, KZ, Zwangsrekrutierung, auch vor dem Verlust der nationalen Identität. Luxemburg wurde dem "Gau Moselland" zugeschlagen und Hochdeutsch zur allein gültigen Sprache erklärt. Vater Maurice Calteux war Tierarzt in Useldingen bei Arlon. An "Moritz Kalte, Tierarzt" ist der Brief vom 2. Juni 1943 adressiert, in dem ihn der Landrat aufforderte, den germanisierten Namen anzunehmen. Calteux weigerte sich. Schließlich erschienen SS-Männer, um das Praxisschild aus Emaille abzuschrauben. "Da nahm mein Vater den Hammer und zerschlug vor den verdutzen Männern das Schild." Anfangs muss die Beziehung zwischen Besatzern und Besetzten gut gewesen sein. Im Tagesbefehl des deutschen Kommandanten vom 3. August 1940 ist sogar von einem "schönen harmonischen Verhältnis" die Rede. Dann kam die Eingliederung Luxemburgs ins Deutsche Reich, kam die Verfolgung von Juden und Widerstandskämpfern, kamen die Zwangsumsiedlungen und vor allem die Zwangsrekrutierungen von Luxemburgern an die Ostfront mit all den Kriegstoten und Gefangenen. Die kehrten erst Ende 1945 aus den sowjetischen Lagern zurück, und manche gar nicht. Mit sechs Jahren, so erinnert sich Georges Calteux, musste er als Messdiener morgens die Glocke läuten. Eines Tages sah er den Küster Feyen am Altar laut beten. Sein Sohn war im Osten vermisst gemeldet worden. So lebten die Luxemburger zwischen Angst, Hoffnung und versteckter Auflehnung. Es versuchten viele, sich dem Militärdienst zu entziehen. Die wurden aufgenommen und verborgen. Deserteure mussten unauffällig versorgt werden. Also erweiterte man im Hause Calteux die Taubenzucht und schickte einige Vögel regelmäßig ins Versteck. Anfang September 1944 erreichte eine amerikanische Vorhut Useldingen. Die Befreier waren da. Aber von den Kämpfen sind schlimme Erinnerungen geblieben: Ein deutscher Lkw, in dem die Menschen wie Fackeln brannten. Oder ein deutscher Soldat, der sich nicht ergeben wollte und mit einem Kopfschuss getötet wurde. Aber auch Anekdoten: "Tatta Clara, du haas gesot, wenn d'Amerikaner kéimen, dan kréiche mir Schokola, an elo schéissen si" (Tante Clara, du hast gesagt, wenn die Amerikaner kommen, dann kriegten wir Schokolade, und nun schießen sie). Auch wenn sich die Amerikaner noch einmal zurückzogen - Useldingen blieb frei. Und die Ardennen-Offensive wurde im Dezember 1944 einige Kilometer östlich gestoppt. Was hat der Achtjährige empfunden, als die Befreiung perfekt war? Ganz einfach: Die Angst war weg. Und für die Kinder begann eine herrliche Zeit. Sie turnten auf liegen gebliebenen Autos herum, bauten ein Boot aus Benzinkanist-ern, zündeten schon mal eine Nebelhandgranate, sägten am Fahrgestell eines notgelandeten Flugzeugs, bauten Häuschen aus Tarnmatten und genossen das völlig neue Gefühl, nicht nur frei zu sein, sondern auch noch Apfelsinen, Schokolade und Kaugummi zu besitzen. Fast ein Jahr lang blieb die Schule geschlossen.Im Rückblick fällt das Urteil differenziert aus

Im Rückblick fällt das Urteil von Georges Calteux differenziert aus. Ja, es gab sie, die brutalen Nazis, die beflissenen Kollaborateure, die 4000 luxemburgischen NSDAP-Mitglieder. Es gab allerdings auch die anderen. Calteux erinnert sich an zwei Trierer Kollegen seines Vaters, an die Namen Doktor Kneip und Doktor Bussow. Als Maurice Calteux wegen Unterstützung der Widerstandsbewegung verhaftet und ins KZ deportiert werden sollte, wurde er von Bussow gewarnt und konnte untertauchen. Den ersten Kontakt mit einem Deutschen hatte die Familie Calteux wieder im Jahr 1946. Es war der oppositionelle Pfarrer Demmer, der während der Besatzungszeit untergetaucht war und nach 1945 in Dasburg wirkte. Mit ihm trafen sich die Calteux'auf einer streng bewachten Grenzbrücke. Hinüber und herüber durfte keiner. Ein leiser, ein zaghafter Neubeginn.

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