Heißes Ohr und kühler Kopf

TRIER. Von Montag bis Samstag bedienen jeden Tag ausgebildete Berater und Beraterinnen das Kinder- und Jugendtelefon (KJT), eine Einrichtung des Kinderschutzbunds. Sie erhalten Anrufe, die intimste Details beinhalten und die manchmal mit Gewalt und Drogen zu tun haben. Der TV war an einem Nachmittag mit dabei. Zur Wahrung der Anonymität ist der Sachverhalt leicht verfremdet wiedergegeben.

Ein Herz, mit Bleistift dünn auf einen Block gemalt. Die Telefonberaterin Andrea Mayer (alle Namen geändert) zieht immer wieder fast meditativ die Linien nach. Das Telefon hinter ein Ohr geklemmt, den Kopf mit einer Hand gestützt, spricht und lauscht sie konzentriert in den Hörer.Einen jungen Mann hat sie an der Strippe. "Hallo, kannst Ritchie zu mir sagen", sagt er aufgeregt. Und fast ohne Übergang: "Ich komme zu früh, wenn ich mit einer Frau schlafe!" Gewöhnungsbedürftig, mit einem wildfremden Menschen über derartige intime sexuelle Details zu reden. Doch Mayer ist dazu ausgebildet, bespricht mit ihm verschiedene Dinge und hält die erforderliche Distanz. Sie wird sehr oft mit Themen wie diesem konfrontiert - die manchmal nahtlos in Belästigungen übergehen. "Unangenehm sind die Anrufe, in denen Erwachsene tun, als wären sie Kinder, und einen auf der sexuellen Schiene anmachen", sagt sie und wirkt dabei sehr souverän.

Ein ähnliches Bild in einem benachbarten Raum, der gleichfalls eigentlich ganz anderen Bürozwecken dient. Hier berät die Studentin Jana Becker Kinder und Jugendliche, die die "Nummer gegen Kummer" gewählt haben. Ein Anruf, dessen Inhalt zu obzön für eine Wiedergabe wäre, sorgt für ein gequältes Lächeln. Dann ein Scherzanruf. "Sie haben Geld gewonnen", kichern mehrere Kinder in das Telefon. "Ihr habt wohl ein bisschen Langeweile?", fragt sie belustigt. Auch Anrufe dieser Art gehören zum Standardprogramm und dienen manchen Kindern als erste Kontaktaufnahme zum KJT. Nur wenig ernsthafte Beratungsgespräche habe sie an diesem Nachmittag, sagt Jana Becker fast frustriert. "Die Beraterin vor mir hatte drei gute Beratungsgespräche und sonst nichts." Wieder klingelt es, ein Mädchen, der Sprache nach aus Bayern. Von Drogensucht spricht sie und Selbstmordversuchen, dass sie gerade zugedröhnt sei und auch klauen würde.

Becker nennt ihr eine Beratungsstelle in ihrer Nähe, mühsam in einem dicken Buch die Adresse suchend. Denn Platz für Computer und überhaupt eingerichtete Räume für das KJT gibt es nicht. Das Gespräch beginnt, sich im Kreis zu drehen, dann schlägt es um. Das Mädel bricht in einen Heulkrampf aus, wird aggressiv. "Schwierig einzuschätzen, jetzt brauch' ich erst mal ein Glas Wasser", sagt Becker später geschlaucht. Dramatische Gespräche, in denen es um schreckliche Missbrauchsfälle und Gewalt geht, haben die Beraterinnen erlebt. Aber auch lustige. "Es hat auch schon mal jemand angerufen und gesagt, dass sein Goldfisch ertrunken ist", erzählt Mayer. Sie sitzt nun entspannt an ihrem Tisch und führt "mit einem heißen Ohr ein wunderschönes Gespräch". Eine junge Auszubildende, die an ihrem Arbeitsplatz ein aufwühlendes Erlebnis hatte, schüttet eine Dreiviertelstunde ihr Herz aus. Ihre Eltern will sie nicht belasten, sagt sie. Mayer hilft dem Mädchen durch Zuhören und Einfühlen. Ihr Bleistift-Herz ist mittlerweile groß und kräftig ausgemalt. Eine kurze Verschnaufpause ist nach dem konzentrierten Gespräch nötig. Die Beraterinnen müssen auch auf ihren eigenen emotionalen Schutz achten, mal kurz rausgehen, ein paar Worte mit der Kollegin wechseln. Und wieder klingelt das Telefon.

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