Im Kampf gegen das große Tabu

TRIER. Eigentlich ... eigentlich wissen sie es alle, diese vielen Menschen, die da hin und her laufen, voll bepackt mit Einkaufstüten, telefonierend, rauchend. Eigentlich wissen sie es alle, doch das Tabu hat sich so tief in ihre Köpfe hineingefressen, dass es ihnen nicht einfällt. Nicht einmal dann, wenn sie darüber nachdenken. Dabei leiden so viele Kinder unter der Sucht ihrer Eltern.

"Mir fällt niemand ein", ist eine Antwort, die Stefanie Kunze und ihre Kolleginnen oft hören, wenn sie mit dem Info-Stand von "Lichtblick", einer Fachstelle des Kinderschutzbundes, in der Trierer Fußgängerzone steht. Niemand, der trinkt. Niemand, dessen Kindern es deshalb irgendwie schlecht geht. "Erst bei längerem Nachdenken fällt ihnen dann doch noch ein Kind ein, nicht selten zwei oder drei", sagt Kunze. Doch darüber so lange Nachdenken wollen nicht viele. "Alkoholismus ist so stark tabuisiert, dass die Leute betroffene Kinder für ,Mangelware' halten", sagt Kunze. Doch nicht zehn Kinder, nicht 20 oder 50 sind in der Region Trier vom Alkoholismus ihrer Eltern betroffen. Mehrere tausend müssen es sein. Denn nach Statistiken hat jede siebte Familie ein Suchtproblem. Alkoholismus ist kein Minderheitenproblem und auch keines der "Unterschicht". Behäbig sitzt er mittendrin in unserer Gesellschaft und hat ein freundliches Gesicht. Denn die Fassade der Normalität wird so lange wie möglich aufrechterhalten: Mama und Papa fahren zur Arbeit, haben Ruf, Haus und Freunde - und die Kinder spielen mit. Dass sie darunter leiden, wird ebenso totgeschwiegen wie die Tatsache, dass Mama ab sechs Uhr abends ein anderer Mensch ist, selbstmitleidig lallend, aggressiv, ein trauriges Zerrbild der Frau, die sie sein könnte. "Ich stelle immer wieder fest, dass viele nicht verstehen, warum denn das Kind Hilfe bekommen soll, wenn doch der Vater oder die Mutter säuft", sagt Sabine Tober-Gödert. Wie die Studentin Stefanie Kunze arbeitet die Buchhalterin ehrenamtlich für Lichtblick: sucht Sponsoren, organisiert Benefiz-Konzerte und stellt sich auf den Hauptmarkt, um Menschen auf das Problem der Kinder aufmerksam zu machen.Großer Hunger nach Zuwendung

Das ist eine "trockene" Arbeit, begleitet von der ganz gewöhnlichen Ablehnung, die Leuten entgegenschlägt, die in der Fußgängerzone für einen guten Zweck sammeln. Eine trockene Arbeit ohne die Aussicht auf ein entlohnendes Kinderlächeln - denn die Kinder, denen Lichtblick hilft, lernen die Ehrenamtlichen gar nicht kennen. "Man muss schon an die Sache glauben", sagt Kunze. Ihr und ihren Kolleginnen ist es wichtig, den Kindern eine Lobby zu geben und das gesellschaftlich verabredete Schweigen zu brechen. Denn sie alle haben irgendwann irgendwo Kinder gesehen, die mit der Sucht ihrer Eltern groß werden müssen. Bewusst gesehen. Und sie wissen, wie wichtig es für diese Kinder ist, einen Halt zu finden, jemanden, der ihnen zuhört, einen Ort, wo der ganze Mist, den sie zu Hause erleben, nicht ist - und wenn auch nur für kurze Zeit. "Die Kinder haben einen großen Hunger nach Zuwendung", sagt Cordula Apelt. In ihrem Beruf als Lehrerin sieht die Ehrenamtliche immer wieder betroffene Kinder. Manche verhalten sich extrem auffällig, andere träumen sich im Unterricht weg - und "die haben logischerweise keinen Kopf für Prozent- und Zinsrechnung", sagt Apelt. Die Fachstelle "Lichtblick" des Kinderschutzbundes kann diesen Kindern und ihrer Familie einen Halt geben und einen geschützten Raum bieten. Deshalb machen sich die Frauen immer wieder an die mühsame Arbeit, den Mantel des Schweigens Stückchen für Stückchen zu zerreißen.

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