Kehrseite der Globalisierung

Berlin · Die Beschäftigungslage ist gut, trotzdem haben viele Angst vor dem Absturz. Sind solche Sorgen berechtigt?

Berlin (dpa) Die Aussichten der Menschen in den Industriestaaten auf einen Job sind gut - doch viele fürchten sich vor einem Abstieg. Gestützt auf neue Zahlen sagt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Die Sorgen sind berechtigt. Warum? Wie hat sich der Arbeitsmarkt im Bereich der OECD entwickelt? Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stellt fest: Die Jobmärkte haben sich erholt - die Beschäftigung ist nicht nur in Deutschland auf Rekordniveau. So hat sie im OECD-Raum insgesamt wieder das Niveau von vor der Weltwirtschaftskrise 2009 erreicht. Erwartet wird, dass bis Ende 2018 die Erwerbquote 61,5 Prozent erreicht - also mehr als Ende 2007 mit dem damaligen Höchstwert von 60,9 Prozent. Dann würden 47 Millionen Menschen mehr in Lohn und Brot stehen als 2007. Profitieren die Arbeitnehmer generell davon? Nein. Denn es gibt laut OECD eine wachsende Polarisierung. Jobs für Menschen mit mittlerer Qualifikation werden weniger. Ihr Anteil sank bis 2015 innerhalb von 20 Jahren um 9,5 Prozentpunkte im Durchschnitt der 35 OECD-Staaten. Die Lage in Deutschland: Hier sank dieser Anteil um rund 8,2 Prozent - der der hochqualifizierten Jobs stieg um 4,7, der der niedrigqualifizierten um 3,4 Prozent. Was sind die Ursachen dieser Polarisierung? Vor allem der technologische Wandel. Jobs verlagern sich vom verarbeitenden Gewerbe hin zur Dienstleistungsbranche - dort wird oft schlecht bezahlt. Vielfach fehlen Aufstiegschancen. "Viele Menschen sind über- oder unterqualifiziert", sagt OECD-Generalsekretär Ángel Gurría. Viele Sorgen, die populistischen und globalisierungskritischen Bewegungen zugrundeliegen, sind laut OECD berechtigt. Schuld seien aber nicht in erster Linie offene Märkte und wirtschaftliche Verflechtungen, sondern der Einsatz von immer neuer Technik, die Arbeitsplätze gefährdet oder massiv umgestaltet. Was kennzeichnet den deutschen Arbeitsmarkt? Die Löhne sind im Schnitt deutlich höher als im OECD-Schnitt, der Anteil der Menschen mit vergleichsweise niedrigen Löhnen liegt laut der Organisation mit 9,1 Prozent etwas unter dem OECD-Schnitt von 10,6 Prozent. Dafür liegt der Anteil der Arbeitskräfte, die unter Stress leiden, bei knapp 46 Prozent - im OECD-Schnitt sind es 41 Prozent. Und auch bei der Lohngleichheit von Frauen und Männern sieht die Organisation in Deutschland deutlichen Verbesserungsbedarf. Wie kann die Politik gegensteuern? Die OECD plädiert für forcierte Förderung von lebenslangem Lernen. Weiterbildung in der Arbeitswelt solle unterstützt werden. Nötig seien Programme, die dafür sorgen, dass sich Arbeit lohnt, und die Gesundheitsrisiken im Job vermindern. Barrieren zum und auf dem Arbeitsmarkt für sozial Schwächere sollten abgebaut werden. Was schwebt Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) vor? Die Einrichtung eines Erwerbstätigenkontos mit einem Startguthaben etwa von 20 000 Euro für alle, die neu eine Arbeit aufnehmen. Dienen könnte das der Finanzierung von Weiterqualifizierung. Aber - so ein Debattenbuch aus dem Hause Nahles für die Arbeitswelt in der Digitalisierung - auch Arbeitsreduzierung oder Sabbaticals für Erziehung oder Pflege könnten Arbeitnehmer so finanzieren. fragen und antworten zum arbeitsmarktBundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) tritt für ein persönliches Erwerbstätigenkonto mit 20 000 Euro Guthaben für jeden Über-18-Jährigen ein, der eine Arbeit aufnimmt. "Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer bekommt ein Startguthaben", sagte Nahles am Dienstag bei einer OECD-Konferenz in Berlin. "Wir sind bei dieser Idee am Anfang", räumte Nahles ein. Nun komme es ihr darauf an, Unterstützung dafür zu sammeln. Zur Finanzierung wollte sie sich deshalb zunächst nicht äußern. OECD-Generalsekretär Ángel Gurría lobte die Pläne. Vorgeschlagen hatte Nahles so ein Konto bereits bei der Vorstellung von Überlegungen zur Arbeitswelt im digitalen Zeitalter Ende November. Damals hatte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer vor neuen finanziellen Belastungen für die Wirtschaft gewarnt. Verdi-Chef Frank Bsirske hatte gefordert, so ein Konto unverzüglich zu schaffen.

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