Kein Anflug von Schuldbewusstsein

TRIER. Vor der 3. Großen Strafkammer des Trierer Landgerichts muss sich seit wenigen Tagen der Neurochirurg Dr. Wolfgang S. wegen mutmaßlichen Abrechnungsbetrugs in 1712 Fällen verantworten.

Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Der Prozess gegen den einstigen Star-Operateur Wolfgang S. kommt nur zäh in die Gänge. Der komplette erste Verhandlungstag hat für Staatsanwalt Manfred Stemper nicht ausgereicht, um die Anklageschrift in voller Länge vorzutragen. So sitzt er auch zu Beginn des zweiten Tages vor der Seiten starken Akte und liest so unermüdlich wie akribisch einen Fall nach dem anderen vor. Das Schema der angeklagten Taten wird schnell deutlich: Dr. S. hatte neben seiner florierenden Trierer Praxis auf dem ehemaligen Kasernengelände Bertard regelmäßige OP-Termine in der Bad Emser Privatklinik "Russischer Hof". Seinen dortigen Patienten berechnete er Fahrtkosten, Verbandsmittel und einen vollen Abrechnungssatz für medizinische Leistungen. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft zu Unrecht: Da er an beiden Standorten tätig geworden sei, hätten ihm Fahrtkosten nicht zugestanden, Verbandsmittel seien durch die zusätzlich erhobenen Aufenthaltskosten des "Russischen Hofs" abgedeckt gewesen und beim Abrechnungssatz hätte er nach der Gebührenordnung für Ärzte 15 Prozent abziehen müssen. Fahrtkosten mehrfach berechnet

Doch damit nicht genug: Wenn der Spezialist für Bandscheiben-Probleme mehrere Patienten gleichzeitig operierte oder visitierte, fanden sich die kompletten Fahrtkosten Trier-Bad Ems auf jeder einzelnen Abrechung wieder. Außerdem hält die Anklage S. vor, er habe selbst in Zeiten, da er auf Auslandsreisen weilte, noch Visiten berechnet. Gesamtschaden: mindestens 300 000 Euro. Für Laien offenbart der Blick in die ärztlichen Abrechnungsregularien ein Buch mit sieben Siegeln. Auch die Kammer tastet sich millimeterweise durch das Dunkel, wobei die Aussagen des Angeklagten wenig zur Erhellung beitragen. Vom einstigen Glamour, der Dr. Wolfgang S. begleitete, ist wenig geblieben. In guten Tagen galt er manchen Patienten als Wunderarzt, die (irrige) Legende wollte sogar wissen, er habe Attentatsopfer Wolfgang Schäuble operiert. Jetzt sitzt da ein hagerer, nervöser Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe, der sich beim Aufstehen auf einen Stock stützt, den er notfalls auch schon mal drohend gegen einen Fotografen schwingt. Hildesheim und Grevenmacher gibt er als Adresse an, im Norden praktiziert er noch. Von den großen Klinik-Ausbauplänen in Gronau ist wohl nichts übrig geblieben nach dem bundesweiten Skandal, den 1997 ein "Report"-Beitrag auslöste. Ein Anflug von Schuldbewusstsein ist nicht auszumachen, stattdessen wirft S. der Staatsanwaltschaft "Aggressivität" vor. Und nicht nur die Anklage nimmt er ins Visier. Bei den Abrechnungen sei er "schlecht beraten" gewesen. Die Doppel-Abrechnung bei den Fahrtkosten sei ein Fehler der Privatärztlichen Abrechungsstelle, immerhin sei es "deren Job, das auseinander zu rechnen". Dass die Landesärztekammer in einem Gutachten seine Abrechnungspraxis als unzulässig eingestuft habe, "hat mir keiner gesagt". Wenn des Doktors Anwalt sich auf einen Vertrag berufen hat, den es laut S. so nie gab: "Da hat er auf eigene Faust gehandelt." "Fehler der Abrechnungsstelle"

Wo immer das Gericht auf die sich häufenden Widersprüche hinweist, hat S. "davon nichts gewusst". Bewundernswert die Seelenruhe, mit der der Kammervorsitzende Björn Schlottmann die Wirrungen und Wendungen auseinander zu dröseln sucht, aufgehalten durch umfassende, aber nicht immer dem präzisen Sinngehalt der Frage entsprechenden Antworten des Angeklagten. Es wird unter Gentlemen verhandelt, ein Bankräuber oder Schläger könnte schwerlich mit so viel - von gelegentlicher Ironie begleiteter - Konzilianz rechnen. Die den Prozesstag dominierende Frage nach dem vertraglichen Status zwischen S. und dem "Russischen Hof" lässt sich anhand der Aussagen des Angeklagten jedenfalls nicht klären. So wird denn in den nächsten Tagen der Aufmarsch der 247 benannten Zeugen beginnen.

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