Krankheit: Kaufsucht

TRIER. Therapie statt Strafe: Mit der Chance, sich zu bewähren, endete der Prozess gegen eine ehemalige Angestellte der Sparkasse Daun. Sie hatte Kundengelder veruntreut, um ihre Kaufsucht zu finanzieren.

Manchmal besteht in einem Gerichtsverfahren zwischen der Anklage, die erhoben wird, und dem Menschen, der auf der Anklagebank sitzt, eine unfassbare Kluft. Laut Staatsanwaltschaft geht es vor der 1. Strafkammer des Trierer Landgerichts um einen Millionen-Betrug, jedenfalls in alter Währung. Nach Bereinigung unklarer Punkte bleibt am Ende ein Schaden von 400 000 Euro - eine Riesensumme. Und dann sitzt da die Angeklagte. Klein, wachsbleich, zart bis zur Zerbrechlichkeit. Gepflegte Frisur, gute Umgangsformen. Niemand, den man mit einer Straftat in Verbindung bringt. Hildegard R. leidet unter Magersucht. Noch vor Jahresfrist wog sie 51 Kilo, jetzt sind es 41 - sagt sie. Wahrscheinlich sind es weniger. Der Gesundheitszustand der 48-Jährigen lässt eine Untersuchungshaft nicht zu. Zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr kämpfte sie mit der Krankheit, magerte bis auf 31 Kilo ab, stand am Rand des Todes. Es gelang ihr, die Magersucht zu besiegen, aber nur um den Preis dessen, was das Gericht später einen "Symtomwechsel" nennt: Sie wird kaufsüchtig. Mit Shopping-Vergnügen hat das wenig zu tun. "Kaufsüchtigen geht es um den Akt des Kaufens, nicht um den Besitz", sagt Gutachterin Silvia Leupold. Hildegard R. kauft wahllos und zwanghaft Kleider, Schmuck, Schuhe. 20 Minuten braucht Richterin Finkelgrün, um die Liste der beschlagnahmten "Fundsachen" zu verlesen. Hunderte von Hosen, Blusen, Blazer, Ohrringen, Ketten, Schuhen. Teils originalverpackt, manchmal noch im Karton. Vieles nie getragen, schließlich sollten ihre Bekannten nichts von ihrer Sucht merken.100 Fälle von Veruntreuung nachgewiesen

Weil das Geld nicht reicht, beginnt sie, Kundengelder zu veruntreuen. Seit dem 16. Lebensjahr ist sie bei der Sparkasse Daun, genießt Vertrauen, bringt es bis zur Leiterin einer kleinen Filiale, die später schließt. Systematisch bucht sie Summen von meist älteren Sparern um, bevorzugt längerfristig angelegte Gelder. 100 Fälle werden zwischen 1997 und 2001 nachgewiesen, mal 250 Mark, mal 25 000. Sie holt, was sie gerade zum Einkaufen braucht, oder sie stopft Löcher, die aufzufallen drohen. Kontrollen? "Sporadisch", räumt der Vorstandssekretär der Sparkasse ein. Es gebe Sicherheits-Dienstanweisungen, aber es könne sein, "dass Mitarbeiter die missachten". Die Bank habe es der Angeklagten "sehr erleichtert", hält Staatsanwältin Dellwo fest. Auch das Gericht staunt über "die Leichtigkeit, mit der man hätte Millionen abzocken können". Gleich drei Gutachter mühen sich, die Frage der Schuldfähigkeit zu klären. Dass Kaufrausch und Magersucht zwanghaft seien, möglicherweise die Folge eines Aufmerksamkeitsdefizits in Kindertagen: Darin ist man sich einig. Aber ob dadurch die Steuerungsfähigkeit der Angeklagten so beeinträchtigt war, dass die Strafe gemildert werden muss: Das glauben zwei der Psychiater, der dritte nicht. Gericht, Verteidigung und selbst die Anklage halten es letztlich mit der Experten-Mehrheit. Dennoch fordert Staatsanwältin Dellwo in einem verständnisvollen, auf Objektivität bedachten Plädoyer 2 Jahre und 8 Monate ohne Bewährung - der angerichtete Schaden sei für eine Aussetzung zu hoch. "Geben Sie meiner Mandantin die Chance auf eine Zukunft", plädiert dagegen Verteidiger Günther Grün. Eine Haft-Einweisung bedeute den Abbruch der Magersucht-Therapie "und damit die programmierte Selbstzerstörung einer kranken Frau." "Ich weiß, was es heißt, verurteilt zu werden", sagt Hildegard R. in ihrem Schlusswort mit Blick auf die Reaktion ihrer Umwelt. Nur die engste Familie ist ihr geblieben. Das Gericht aber ist gnädiger als das Umfeld in dem kleinen Eifel-Ort. Es räumt die Chance auf Bewährung ein.

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