Schmerz als Krankmacher

MAINZ. Immer wiederkehrender Kopfschmerz, anhaltende Probleme mit dem Kreuz oder den Gelenken: Rund 800 000 Rheinland-Pfälzer leiden an chronischen Schmerzen. Bei jedem zehnten hat sich dieser Schmerz über die Jahre gar verselbstständigt.

 Chronisch kranke Menschen wissen sich oft nur durch starke Tabletten zu helfen.Foto: TV -Archiv/Marcus Stölb

Chronisch kranke Menschen wissen sich oft nur durch starke Tabletten zu helfen.Foto: TV -Archiv/Marcus Stölb

Schmerzpatienten sind eine besonders geplagte Spezies, wissen die Mitglieder von Deutscher Schmerzgesellschaft und Deutscher Schmerzliga. Oft haben sie eine lange Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich, werden nicht ernst genommen oder allzu schnell in die psychosomatische Ecke gestellt. Psycho-soziale Veränderungen wie Arbeitslosigkeit und familiäre Probleme führen nach Angaben von Dr. Oliver Emrich, Vizepräsident der Schmerzgesellschaft, oft dazu, dass die Schmerzen in den Mittelpunkt eines Leidens rücken und damit die Lebensqualität entscheidend bestimmen. Um so wichtiger wird nach seiner Erfahrung eine Schmerztherapie oder gar das Vorstellen des Patienten bei einer Schmerzkonferenz, um ein möglichst breites Spektrum an Spezialisten von Medizinern über Psychologen bis zu Physiologen mit dem Fall zu befassen.Pilotprojekt in Baden-Württemberg

Doch während Rheinland-Pfalz bei der stationären Behandlung von Schmerzpatienten bundesweit mit an der Spitze steht, geben sich viele Krankenkassen im ambulanten Bereich zugeknöpft. Vereinbarungen über die Anerkennung von Schmerztherapien gibt es mit den bundesweit organisierten Ersatzkassen. Die so genannten Primärkassen wie AOK, Innungs- oder Betriebskrankenkassen verweigern sich bisher in Rheinland-Pfalz, dem Saarland und einigen anderen Bundesländern. Schmerzkonferenzen in Ludwigshafen, Speyer, Trier, Landau, Koblenz und Mainz arbeiten seit Jahren ehrenamtlich. Erst jetzt haben in Baden-Württemberg AOK und Techniker-Krankenkasse zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung ein Pilotprojekt gestartet, bei dem die Kassen zunächst einmal zehn Schmerzkonferenzen mit jeweils bis zu 15 Patienten honorieren. Ein Schritt, der laut Emrich und seinem Trierer Kollegen Dr. Armin Ensgraber auch in Rheinland-Pfalz unbedingt gegangen werden muss. Bisher hat kein Patient einen Anspruch darauf, dass ihn sein Arzt in einer solchen Runde vorstellt. Mit Schmerztherapie kann nicht nur geholfen, sondern auch Geld gespart werden, argumentieren die Fachleute und verweisen auf lange Ausfallzeiten der Patienten oder gar eine frühe Erwerbsunfähigkeit. Doch auch ein Schmerzspezialist stoße oft an seine Grenzen, räumen die Mediziner ein. Daher sei es um so wichtiger, Rat für eine ganzheitliche Behandlung einzuholen, von der Akupunktur bis zur psychotherapeutischen Behandlung, sagt Dr. Susanne Listmann, die seit Jahren Problempatienten der Spezialistenriege vorstellt. Schmerzkonferenzen könnten in relativ kurzer Zeit viele Fachleute an einen Tisch bringen, Fälle diskutieren und eine neue Sicht eröffnen. Auf diese Weise kann bei einem langjährigen Patienten mit Bandscheibenschaden doch noch erkannt werden, dass seine Rückenschmerzen entscheidend durch Rheuma verursacht werden. Nach Einschätzung von Ensgraber ist Deutschland gegenüber Frankreich, Norwegen oder den USA ein medizinisches Entwicklungsland bei der Verordnung von starken Schmerzmitteln und Morphin, um chronische Schmerzen zu lindern.Gezielter Einsatz von Schmerzmitteln

Weit verbreitete Vorurteile bei Ärzten, Patienten und in der Öffentlichkeit überdecken, dass der gezielte Einsatz von Schmerzmitteln durchaus sinnvoll ist und keineswegs in die Sucht führt. Auch mit vielen anderen Mythen im Bereich der Schmerzkranken muss nach Überzeugung von Professor Ulrich Gerbershagen vom DRK-Schmerzzentrum Mainz aufgeräumt werden. So sollten sich Patienten mit Rückenschmerzen nicht übermäßig schonen. Sich hinzulegen bringe auch bei Kopfschmerzen oder Migräne keine Linderung. Die Behauptung, Morphin lindere jeden Schmerz, gehört für ihn ebenso in das Reich der Fabeln wie die Weisheit, alles als psychosomatisch anzusehen. Die Patienten litten darunter, als Quasi-Simulant oder medikamentensüchtig angesehen zu werden, betont Harry Kletzko von der Deutschen Schmerzliga. Rund 18 000 Anfragen registriert der von Patienten und Ärzten gegründete Verein jedes Jahr. Schmerzpatienten greifen nach seiner Erfahrung oft nach jedem Strohhalm, um ihr Leiden zu lindern. Der Ausbau von Schmerzkonferenzen, so sind sich die Experten einig, könnte vielen weiter helfen.

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