Schneeball mit Prozess-Lawine

KOBLENZ. Hunderte von Leichtgläubigen gingen Mitte der 90er-Jahre dem so genannten "Gewinnsystem" Titan auf den Leim. Darunter auch viele aus der Region Trier. Mit einem Berufungsverfahren gegen einen ehemals stellvertretenden Titan-Marketing-Direktor beschäftigt sich in dieser Woche das Landgericht Koblenz.

Mit 5900 Mark war man dabei: Soviel mussten Teilnehmer am Titan Marketingsystem bezahlen, um überhaupt mitmachen zu dürfen. Dafür durften sie als "Einzelhändler" in die Titan-Hierarchie einsteigen und das einzige Produkt des Schneeballsystems verkaufen: Titan selbst. Das große Geld sollte sich einstellen, wenn neue Mitspieler hinzukamen. Wer als "Einzelhändler" beispielsweise zwei neue Mitglieder warb, erhielt eine Provision von 1000 Mark, avancierte dann zum "Großhändler", dem für jedes neue Mitglied 1700 Mark winkten. Über verschiedene Zwischenstufen konnten die Teilnehmer so aufsteigen, versehen jeweils mit Titeln wie "Markteting-Manager" oder "Marketing-Direktor". Je höher die Stufe, desto höher die Provision. Dass ein solches System nicht lange gut gehen konnte, war klar. Dennoch gab es genügend Leichtgläubige, die vom großen Geld träumten und mitmachten. Doch absahnen konnten nur die Initiatoren des Spiels und die, die früh genug eingestiegen waren, ehe die Masche aufflog.Die Euphorie des schnellen Glücks

Rekrutiert wurden die Teilnehmer bei Veranstaltungen zunächst in großen Trierer Hotels und später auch in kleineren Sälen beispielsweise in Klüsserath, Wasserliesch, Igel und Kell am See. Teils mehrere hundert Interessierte ließen sich bei diesen Veranstaltungen das Titan-System erklären. Im Saal waren allerdings meistens mehr Titan-Mitglieder als Neulinge. Von Party-Stimmung und einer Art "Euphorie des schnellen Glücks" berichteten Teilnehmer damals. Die Strategie: Die Titan-Mitglieder heuchelten große Begeisterung und bauten so psychologischen Druck auf die Neulinge auf, doch endlich beim Gewinnsystem zu unterschreiben. Direkt strafbar machten sich die Titan-Organisatoren und Teilnehmer dabei kurioserweise nicht. Sie ­ wie auch die Macher von ähnlichen Spielen wie "Monopol", "Life", "Time" oder "Jump" ­ bewegten sich lange in einer juristischen Grauzone. Als Betrüger konnten sie nicht verurteilt werden, da die Teilnehmer ihre Unterschrift unter Titan gesetzt hatten. Auch zivilrechtlich hatten einzelne Teilnehmer deshalb kaum Chancen, das einmal gezahlte Geld wieder zurück zu bekommen. Erst 1998 wurde die rechtliche Lage etwas klarer: Im Randvermerk eines Urteils stellte der Bundesgerichtshof (BGH) die Strafbarkeit von Systemen wie Titan klar. Ermittelt wurde fortan auf Grundlage des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb. Nach Angaben der Koblenzer Staatsanwaltschaft ­ deren Wirtschaftskammer zuständig ist ­ gab es in Sachen Titan allein in den Regionen Trier und Koblenz etwa 500 Ermittlungsverfahren gegen Teilnehmer auf allen Ebenen. Der überwiegende Teil der Verfahren sei eingestellt worden, so die Staatsanwaltschaft, zumeist wegen Geringfügigkeit. In einer ganzen Reihe von Fällen wurden auch Strafbefehle erlassen. Die Höhe richtete sich dabei meist nach der Summe der kassierten Provisionen, die gegen den Einsatz der Teilnehmer aufgerechnet wurde. Für die von Strafbefehlen betroffenen Titan-Teilnehmer blieb der Traum vom großen Geld so zumindest annähernd ein Nullsummenspiel.Unwissenheit schützt manchmal doch vor Strafe

In einer ganzen Reihe von Fällen kam es auch zu Anklagen: Doch nahezu alle Verfahren endeten mit Freisprüchen für die Titan-Organisatoren und Teilnehmer. Grund dafür war zumeist der so genannte "unvermeidbare Verbotsirrtum" ­ ein juristischer Fachbegriff, der den sonst gültigen Grundsatz "Unwissenheit schützt nicht vor Strafe" aufhebt: Weil die Rechtslage unklar war, hätte den Angeklagten selbst eine Nachfrage bei Rechtsanwälten keine Gewissheit gebracht, ob Titan legal oder illegal war. Dass es heute beim Landgericht Koblenz dennoch zu einem Berufungsverfahren kommt, liegt daran, dass der Angeklagte Michael S. bei der Staatsanwaltschaft nicht als einfacher Teilnehmer, sondern als einer der dickeren Fische im Titan-System gilt und dass das Landgericht das Verfahren länger zurückgestellt hatte. Zudem ist Michael S. laut Staatsanwaltschaft zwischenzeitlich schon in Luxemburg verurteilt worden. Hier war die Teilnahme an einem Schneeballsystem wegen Mittäterschaft am Betrug strafbar. Der heute 32-jährige soll sich in der "Organisationseinheit 18" von Titan ­ Trier und Umgebung ­ vom Einzelhändler bis zum Stellvertretenden Markenting-Direktor hochgearbeitet haben. 1995 soll er in das Gewinnsystem eingestiegen sein und bis 1997 eine ganze Reihe von Werbeveranstaltungen im Raum Trier organisiert haben. Vom Amtsgericht Trier wurde S. wegen des Verbotsirrtums freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft glaubt jedoch, dass für jemanden wie S., der in der Hierarchie bereits aufgestiegen war, eine besondere Sorgfaltspflicht gelten musste und ist deshalb in Berufung gegangen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort