Schwierige Gratwanderung

TRIER. Das Trierer Jugendamt hat im Misshandlungsfall Richard gestern erneut Vorwürfe zurückgewiesen, wonach die Behörde zu spät reagiert habe. Gleichzeitig räumte Vize-Chefin Dorothee Wassermann ein: "Aus heutiger Sicht hätten wir damals anders handeln müssen." Richards Eltern waren am Mittwoch wegen Misshandlung ihres Sohnes zu Haftstrafen verurteilt worden.

Auch einen Tag nach dem Urteil gegen die Eltern des im März 2000 an den Folgen einer Infektion gestorbenen anderthalbjährigen Richard T. dauern die Diskussionen über das monatelange Martyrium des kleinen Jungen und mögliches Versagen der Behörden an. Nicht zum ersten Mal stellte sich Triers Sozialdezernent Georg Bernarding am Donnerstag vor seine Mitarbeiter. Von den die Familie damals betreuenden Johannitern habe es keine Aufforderung an das Jugendamt gegeben, den kleinen Richard in eine Pflegefamilie zu vermitteln. "Aus unseren Akten gehen die Bedenken nicht hervor", sagte Bernarding, "wir haben's weder schriftlich noch mündlich." Die Aussagen des Trierer Sozialdezernenten stehen im Widerspruch zu den Angaben, die eine ehemalige Johanniter-Kinderkrankenschwester am zweiten Prozesstag gegen die Eltern gemacht hatte: "Ich habe dem Jugendamt gesagt, das hat keinen Zweck, tun Sie das Kind da raus." Hintergrund war laut der Frau eine Einweisung des mit Blutergüssen am ganzen Körper übersäten unterernährten Jungen ins Krankenhaus. Die Stationsärztin, die Richard damals im Krankenhaus untersucht hatte, sagte im Prozess ebenfalls aus, das Trierer Jugendamt informiert zu haben ("Da muss etwas passieren"). Der kleine Junge habe bei der Einweisung Misshandlungsspuren aufgewiesen und sei "völlig abgemagert" gewesen. "Der hat alles in sich reingeschlungen, was wir ihm vorgesetzt haben." Trotzdem kam Richard auch nach diesem Klinik-Aufenthalt wieder nach Hause - wenn auch mit deutlich verschärften Auflagen an die Eltern und häufigeren Kontrollen. "Es gab immer die Hoffnung, dass sich die Familie wieder stabilisiert", sagte gestern Triers Soziadezernent Georg Bernarding. Und die Rückmeldungen nach Richards Entlassung aus der Klinik seien positiv gewesen. "Der Junge entwickelt sich gut, eine Herausnahme aus der Familie ist nicht erforderlich", notierte der zuständige Sachbearbeiter seinerzeit nach einem Telefonat mit den Johannitern. Anfang März 2000, zwei Wochen vor seinem Tod, musste Richard erneut ins Krankenhaus - diesmal wegen einer Bronchitis. Einer Johanniter-Kinderkrankenschwester war zuvor aufgefallen, dass sich der Gesundheitszustand des seit längerem erkrankten Jungen einfach nicht besserte, obwohl ihm der Arzt Medikamente verschrieben hatte. "Ich habe dann gemerkt, dass der verordnete Hustensaft gar nicht angebrochen war", sagte die Frau vor Gericht. "Der hilft Richard nicht", habe dessen Mutter Michaela T. daraufhin geantwortet. Das Trierer Jugendamt habe von diesem Vorfall nichts gewusst, sagte gestern Vize-Chefin Dorothee Wassermann, "jedenfalls ist die Sache mit den Medikamenten nicht dokumentiert". Sozialdezernent Bernarding bezeichnete die Arbeit des Jugendamts als "schwierige Gratwanderung". Die Herausnahme eines Kindes aus der Familie sei der "allerallerletzte Weg". Bis dahin müsse viel passiert sein, "müssen eindeutige Fakten vorliegen, dass es nicht mehr geht". Auf die Frage, ob der kleine Richard nach den wiederholten Vorfällen nicht hätte in eine Pflegefamilie gegeben werden müssen, sagte der Sozialdezernent: "Im Nachhinein ist man immer schlauer. Wir werden künftig noch näher hinschauen." Laut Dorothee Wassermann ist das Trierer Jugendamt derzeit für 180 Pflegekinder zuständig.

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