Union wittert Morgenluft

BERLIN. Ein Jahr nach Bekanntwerden von zehntausendfachem Visa-Missbrauch in Osteuropa hat Außenminister Joschka Fischer erstmals die politische Verantwortung für mögliche Versäumnisse übernommen.

Jürgen Trittin hatte für den geballten Presse-Ansturm nur Sarkasmus übrig: "Ist das hier die Kiewer Botschaft?", fragte der grüne Bundesumweltminister, um sich dann wortlos in seine Berliner Parteizentrale durchzudrängeln. Dort stand ein brisanter Tagesordnungspunkt zur Debatte. Nach wochelangem Schweigen wollte sich Außenminister Joschka Fischer vor dem Parteirat endlich zum massenhaften Visa-Missbrauch an der Kiewer Botschaft und dem so genannten Volmer-Erlass äußern. Die wartenden Journalisten bekamen davon nur ein paar Brosamen ab. Lediglich fünf Minuten dozierte die grüne Ikone vor dem Eingang in eisiger Kälte über ihre Sicht der Dinge. Nein, den Volmer-Erlass, der sämtliche deutsche Botschaften anwies, "im Zweifel für die Reisefreiheit" zu entscheiden, habe nichts mit den Vorgängen in Kiew zu tun. "Das ist hier eine machtpolitische Auseinandersetzung", lenkte Fischer den Blick umgehend auf die Opposition. Immerhin räumte er aber ein: "Für mögliche Versäumnisse und Fehler meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trage ich die politische Verantwortung." Was das konkret bedeutet, blieb an diesem Montag im Nebel. Ein Rücktritt ist damit jedenfalls nicht gemeint. Das machte der Kanzler zur gleichen Stunde wenige Kilometer entfernt klar: "Wenn Fehler vorgekommen sein sollten, dann muss das aufgeklärt werden, dann wird das abgestellt. Wenn die Opposition aber glaubt, den Außenminister kippen zu können, dann irrt sie sich gewaltig." Joschka Fischer habe sein "volles Vertrauen", diktierte Gerhard Schröder vor einer SPD-Präsidiumssitzung den Medienleuten in die Notizblöcke. Bei dieser demonstrativen Rückendeckung wollte auch der grüne Parteirat nicht abseits stehen. Nach Einschätzung von Grünen-Chefin Claudia Roth versammelte sich das Gremium mit "absoluter Geschlossenheit" hinter Fischer. Teilnehmern zu Folge berichtete der Außenminister in aller Ausführlichkeit über die Situation Ende der 90er Jahre, als der Ruf von Firmen und Universitäten nach besseren Kontaktmöglichkeiten mit osteuropäischen Partnern immer lauter wurde. Entsprechend wurde bei der Visa-Praxis reagiert und auch "nachjustiert". Kritische Worte über Fischer suchte man tatsächlich vergebens. Vielmehr teilten alle Anwesenden den Befund, dass es sich bei den permanenten Forderungen nach Aufklärung um eine "vorgezogene Wahlkampfkampagne" der Union handele. Dabei hätten auch Politiker von CDU und CSU damals immer wieder Reiseerleichterungen verlangt. Der Rechtsexperte der Grünen, Jerzy Montag, verwies dazu gestern auf einen Vorstoß des bayerischen Innenministers Günther Beckstein (CSU), der das Auswärtige Amt seinerzeit um Hilfe bei der Einreise von Bürgern aus dem arabischen Raum gebeten hatte, um sich im Freistaat medizinisch behandeln zu lassen. Das sei ein Wirtschaftsfaktor, habe die Begründung gelautet.Anträge steigen um das Doppelte

Die dubiosen Ereignisse in Kiew lassen sich damit freilich nicht erklären. Im Zuge des Volmer-Erlasses vom März 2000 stieg der Zustrom bei der deutschen Botschaft erheblich an. 1999 registrierten die Beamten noch 152 436 Visa-Anträge. Im Jahr 2001 war die Zahl bereits auf 329 258 gestiegen. Auch Montag gab zu, dass es dort zu "kriminellen Machenschaften" gekommen sei. Und Claudia Roth räumte ein, dass Fischer die "Zeitverzögerungen" beim Abstellen des Visa-Missbrauchs "bedauert" habe. Der Union reicht das natürlich nicht. Sie will konkret wissen, warum die schlimmsten Missstände trotz vieler Warnungen praktisch erst im Herbst 2004 durch eine neue Weisung beseitigt wurden. Fischer selbst will zu kniffligen Details nur im parlamentarischen Untersuchungsausschuss Stellung nehmen, der auf Betreiben der Opposition zu Stande kam.

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